William Kentridge: Tragödien auf der Leinwand
27. Oktober 2020Die Frage danach, was afrikanische Kunst eigentlich ist, würde unweigerlich eine Vielzahl verschiedener Antworten aus jedem der 54 Staaten des afrikanischen Kontinents provozieren. Gerade in Südafrika - mit seiner kolonialen Vergangenheit und der sich anschließenden Apartheid - hat diese Frage aber eine besondere Brisanz.
Denn in dem repressiven System wurde europäische Kunst zum Maß aller Dinge erklärt, während traditionelle afrikanische Techniken und Designs vom Regime als 'primitiv' abgewertet wurden. Doch seit den ersten freien Wahlen 1994 und dem Übergang zur Demokratie hat sich viel verändert; viele schwarze Künstler haben eine regelrechte Renaissance durchlebt.
Der Südafrikaner William Kentridge ist zwar ein weißer Gegenwartskünstler, hat mit seiner Kunst aber trotzdem neue Wege beschritten. In seinen Drucken, Zeichnungen und Animationsfilmen beleuchtet der Vorreiter nicht nur die Verbrechen der Apartheid-Ära, sondern kontextualisiert in seinen Geschichten auch ihren historischen Hintergrund.
Nun also zeigen die Deichtorhallen in Hamburg eine der größten Retrospektiven zu William Kentridge überhaupt. "Why Should I Hesitate: Putting Drawing to Work" ist die Ausstellung überschrieben - in etwa: "Warum sollte ich zögern: Zeichnungen arbeiten lassen" - und verweist damit auf die überaus produktive Werkgeschichte des heute 65-jährigen Künstlers. Nachdem die Ausstellung im vergangenen Jahr erfolgreich im Zeitz-MOCAA-Museum in Kapstadt gelaufen ist, sind viele der Kunstwerke nun zum ersten Mal in Deutschland zu sehen.
Der Tyrannei ins Auge blicken
William Kentridge wurde 1955 in eine Familie prominenter Aktivisten und Anwälte der Widerstandszeit hineingeboren, die unermüdlich gegen die Apartheid ankämpften. So verteidigte sein Vater als Anwalt beispielsweise Nelson Mandela und 90 weitere Aktivisten im sogenannten "Landesverratsprozess" von 1956, außerdem leitete er 20 Jahre später die Untersuchung des Todes des schwarzen Aktivisten Steve Biko, der von Polizisten des Apartheid-Regimes zu Tode geprügelt worden war.
Das Aufwachsen in einer jüdisch-südafrikanischen Familie in der Nachkriegszeit brachte mit sich, dass Kentridge eine andere Perspektive auf die Welt hatte als viele seiner Zeitgenossen in seiner Heimatstadt Johannesburg. Um seinem Leben einen Sinn zu geben, studierte er Politik und afrikanische Geschichte - nur um festzustellen, dass die Antworten, die er suchte, sich ihm noch immer entzogen.
In den 1960er Jahren hatten sich einige Familienmitglieder zur Emigration aus Südafrika entschlossen. Zu unerträglich waren ihnen die Ungerechtigkeiten des Apartheid-Regimes geworden. Kentridge, damals kaum ein Teenager, entschied sich dagegen: Mit der Flucht aus seinem Land könne er sich nicht der Verantwortung für die Tyrannei in seiner Heimat entziehen.
Das Nachspüren von Privilegien
Seit gut einem halben Jahrhundert ist Kentridge nun bereits als Künstler aktiv ist und hat dabei wiederholt herausgearbeitet, wie er als weißer Südafrikaner unweigerlich von dem ausbeuterischen Apartheid-System profitiert hat.
Besonders in seinem früheren Werk untersucht Kentridge seine besondere Stellung in der Welt, in der er sich ebenso als Opfer des Systems wie als Teil dieser Maschinerie sieht. Besonders deutlich wurde diese Suche in seinen weißen Alter-Egos "Soho Eckstein" und "Felix Teitlebaum", Karikaturen von weißen Männern in Johannesburg, die er in Animationsfilmen zum Leben erweckte.
Eckstein betrachtet seine Privilegien als selbstverständlich und nimmt sich, ohne Rücksicht auf die Welt um ihn herum, was er will, während sein Pendant Teitlebaum weniger zu profitieren scheint.
Im Laufe der Jahre allerdings entdeckten Teitlebaum und Eckstein, dass sie deutlich mehr Gemeinsamkeiten teilen, als sie dachten. Ja, sie sind vielmehr zwei Seiten derselben Medaille: Sie brauchen sich beide gegenseitig, um zu definieren, wer sie selbst eigentlich sind. Insofern fungieren die beiden Karikaturen als Platzhalter für die "white guilt" - die Schuld und Scham der Weißen -, die Kentridge und viele andere bis heute fühlen.
Der Künstler als Chronist
Die Grundlage für fast alle Werke von Kentridges ist die Zeichnung, unabhängig davon, ob er die verschiedenen Realitäten afrikanischer Geschichte nun abstrakt darstellt oder an konkreten Problemen, Ereignissen, Orten oder Menschen aufhängt.
Dirk Luckow, Kurator der Deichtorhallen, sagt von Kentridge, dass er die "großen Tragödien der Geschichte" mit einer solchen Leichtigkeit erzählen kann, dass sie fast im Widerspruch zum Dargestellten stehen. Die meist schwarz-weiße Farbgebung seiner Werke spiegele diese Spannung fast wortwörtlich wider, wohingegen die Bedeutung und Tiefe hinter den Farben alles andere als eindimensional sei.
Insofern ist es kaum eine Überraschung, dass der Künstler auch als Regisseur für Theaterstücke und Opern alles andere als dilettantisch vorging - auch wenn die bildende Kunst weiterhin das Rückgrat seiner künstlerischen Arbeit darstellte.
Das ist auch der Grund, weshalb Kentridges charakteristischer Stil praktisch unnachahmlich ist. Er schafft es in seinen Zeichnungen, Gemälden, Wandteppichen, Skulpturen und Installationen, selbst der trostlosesten Landschaft etwas Rätselhaftes und eine tiefe Bedeutung abzugewinnen und damit der ausgedörrten Industrie-Einöde um Johannesburg und Pretoria, die so häufig den Hintergrund seines Werkes bildet, neue Dimension zu verleihen.
Obwohl immer eine klare Absicht hinter seinen Arbeiten steckt, lässt der Künstler trotzdem genügend Raum für andere Interpretationen und Gedanken - wie man beispielsweise an der Video-Installation "Kaboom!" sehen kann, die sich mit der Kolonialgeschichte des afrikanischen Kontinents befasst.
Tragische Schichten
Kentridge nimmt sein Publikum gerne mit auf die Reise. So produziert er auf Leinwänden und anderen Oberflächen eine Schicht nach der anderen und benutzt dafür unterschiedlichste Materialien - von Kreide und Kohle über Schuhcreme bis hin zu Maschinen zum Aussäen. Das Entfernen dieser Schichten spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle wie das Kreieren neuer Schichten.
Gleichzeitig erlauben viele seiner Video-Installationen den Zuschauern, aktiv an dem Entstehungsprozess teilzunehmen. Man sieht Kentridges Finger beim Zeichnen, Malen, Abwischen von Schichten, beim Hinzufügen von neuen dramatischen Ebenen zur Geschichte, die sich auf der wie auch immer gearteten Oberfläche entfaltet.
Seine inszenierten Geschichten sind immer von oben gefilmt, so dass man nur die Hände und Arme des Künstlers sieht. Die Vogelperspektive lässt an göttliche Allwissenheit denken, aber auch an Voyeurismus.
Dabei scheinen Kentridges eigene Hände immer auch dem individuellen Zuschauer anzugehören, der in die projizierten Videos eingreift. Das Publikum wird so vermeintlich zum Mitgestalter dieser comichaften Stop-Motion-Aufnahmen, die aber immer dem Plan des Künstlers folgen – vergleichbar mit einer angeleiteten Meditation.
Das sieht man zum Beispiel in Werken wie "Ubu Tells the Truth" ("Ubu sagt die Wahrheit"), einer kinematografischen Installation, die von Zeichnungen aus dem Jahr 1997 begleitet wird. Die Installation war teilweise durch die Arbeit der Wahrheits- und Versöhnungskommission ("Truth and Reconciliation Commission") inspiriert, die zur Feststellung der Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen der Apartheid-Ära eingesetzt wurde.
Meister der Nostalgie
Ein weiterer Aspekt seines charakteristischen Stils ist seine Fähigkeit, Nostalgie für Dinge oder Orte zu erzeugen, mit denen Außenstehende eigentlich gar nichts zu tun haben können. Von der Ermordung des Regisseurs Pier Paolo Pasolini ("Triumphs and Laments", 2016) bis hin zu dem Exilleben des russischen Revolutionärs Leo Trotzky in Istanbul ("O Sentimental Machine", 2015) ermöglichen seine Videoinstallationen, bewusst in solch fremde Welten einzutauchen. Kurator Luckow nennt das "sinnliche Zeitreisen".
Die multimediale Installation "More Sweetly Play the Dance" erstreckt sich über sieben Leinwände auf fast 40 Metern und zeigt eine Prozession schemenhafter Silhouetten - die vor dem geistigen Auge unwillkürlich gegenwärtige Katastrophen heraufbeschwören, die ihren Ursprung in der jahrhundertelangen Ausbeutung ganz Afrikas haben. Kentridge hat sich dabei von dem Ebola-Ausbruch in Afrika inspirieren lassen, erzählt die Geschichte aber über diese Tragödie hinaus, um zu einer ganzheitlichen Perspektive auf das heutige Afrika zu gelangen.
Krankheit, politische Konflikte, Stammestänze und Sklaverei: Das enorme Kunstwerk berichtet mit den projizierten Schatten vor einer sich immer verändernden, zeitlosen "Steppe" von der Geschichte eines ganzen Kontinents.
Sind die Silhouetten auf dem Weg nach Johannesburg, Südafrikas "Goldstadt", um sich ein so lebenswertes Leben aufzubauen, wie man es eben haben kann, wenn man in Minen arbeitet?
Oder werden sie von Traumata aus der Vergangenheit verfolgt?
Statt sich aber über das Leid vergangener Jahrhunderte zu beklagen, wird dieser sich auf dem Bildschirm langsam entfaltenden Tragödie eine wundervolle Musik gegenübergestellt, die von der African Essemblies Brass Band aus Sharpeville gespielt wird - dem Ort bei Johannesburg, in dem 1960 eines der größten Massaker der Apartheid-Ära stattfand.
Die verschiedenen Blechblasinstrumente als Klangteppich der Installation lösen bei den Zuschauern das Gefühl aus, als würden sie einen längst vergessenen Ort wiederentdecken, den sie einmal gekannt haben. Gleichzeitig weist das Meisterwerk die typisch meditative Qualität von Kentridges Werken auf, die ein Gefühl der 'Zugehörigkeit zur Jetztheit' auslösen - was sich allerdings nie auf einen benennbaren Zeitpunkt oder Ort bezieht.
Die Ausstellung "William Kentridge - Why should I hesitate: Putting drawings to work" ist noch bis zum 18. April 2021 in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen.
Adaption: Matthias Beckonert