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"Willkommen" im Nazi-Dorf!

Hans Pfeifer31. August 2015

Seit Jahren bauen Rechtsextremisten im norddeutschen Jamel eine völkische Dorfgemeinschaft auf. Ein Ehepaar will das verhindern und wird bedroht: Brandstifter haben ihre Scheune abgefackelt. Aber die Solidarität wächst.

Völkische Ideologie und rechte Parolen: das norddeutsche Dorf Jamel in Mecklenburg Vorpommern (Foto: DW)
Bild: DW/H. Pfeifer

Ausnahmezustand in Jamel. Die einzige Zufahrt ins Dorf ist gesperrt. Jeder, der rein will, muss sich zunächst von der Polizei befragen lassen. Dann werden Autofahrer über die holprige Straße zu einem improvisierten Parkplatz auf die Dorfwiese geleitet. Eigentlich liegt Jamel ganz beschaulich in einem Wäldchen am Ende einer Sackgasse. Zwischen Maisfeldern und Obstbäumen. Kurz vor der Ostsee. Aber an diesem Wochenende im August findet das Musikfestival "Jamel rockt den Förster" statt.

Die Besucherschar ist bunt gemischt: Jugendliche, alte Menschen, Rollstuhlfahrer, Anzugträger, Punker und auch Politprominenz. Sie alle wollen hier zwei Tage lang feiern. Und ein Zeichen setzen - gegen Rechtsextremismus und rechte Gewalt. Die Polizei ist allerdings nicht gekommen, um die wenigen Dorfbewohner vor den Besuchermassen zu schützen. Sondern die Besucher vor den Dorfbewohnern. Willkommen im Nazidorf Jamel!

"Nationalsozialistisches Musterdorf"

Birgit und Horst Lohmeyer: allein im Nazidorf.Bild: DW/H. Pfeifer

Alle Neuankömmlinge gehen erst einmal zu Horst und Birgit Lohmeyer. Das Ehepaar veranstaltet den "Forstrock" auf seinem Waldgrundstück mitten im Ort. Die Lohmeyers wohnen seit 2004 in Jamel - mit Polizeischutz. Denn kurz vor dem Festival 2015 brennt ihre Scheune ab. Die Ermittler finden Brandbeschleuniger und sagen: Es war Brandstiftung. Die Lohmeyers sagen das auch. Denn seit Jahren schon werden sie bedroht: von rechtsextremen Bewohnern. Die wollen aus Jamel ein "nationalsozialistisches Musterdorf" machen. Sie kaufen gezielt Grundstücke auf und geben sie Gleichgesinnten. Die Lohmeyers wollen das verhindern. Nur: sie sind die Einzigen in diesem Dorf am Ende einer Sackgasse in einem kleinen Wald.

"Lasst uns ins Dorf gehen!", ruft ein junger Mann zu seinen Freunden. Dorfbummel in Jamel ist einer der schaurigen Höhepunkte des Festivalwochenendes. Die meisten trauen sich den Rundgang nur, weil überall Polizei patrouilliert. Der Rundgang ist wie eine Zeitreise in ein untergangen geglaubtes Deutschland: das Deutschland der NS-Zeit.

Fotos aus dem Nazidorf: "Das glaubt mir sonst keiner"

Bis zu Hitlers Geburtsort Braunau am Inn sind es laut Wegweiser in Jamel 855 Kilometer. Der Pfahl steht auf einem Privatgrundstück.Bild: DW/H. Pfeifer

Mitten im Ort prangt ein völkisches Wandgemälde: ein blonder Mann mit Frau und Kindern. Dazu die Überschrift "Dorfgemeinschaft Jamel" und die Parole der neuen Nazis: "frei - sozial - national". Nachts wird es beleuchtet. Nur wenige Meter weiter steht ein großer Wegweiser. Die Ortsangaben sind in altdeutscher Schrift. Ein Schild weist nach Wien in die "Ostmark" - so nannten die Nationalsozialisten einst Österreich. Ein weiteres Schild zeigt nach Braunau am Inn: der Geburtsort Adolf Hitlers liegt 855 Kilometer entfernt. Es gibt auch einen Spielplatz für die zahlreichen Kinder der Rechtsextremisten. Geziert wird er von einem Baumstumpf, in den eine sogenannte Lebensrune eingraviert ist. Heinrich Himmlers mörderische SS hat sie als Symbol für den sogenannten "Lebensborn" verwendet. Mit dem Verein wollte der Reichsführer SS die Geburtenrate des "arischen" Nachwuchses erhöhen.

Auf der Dorfstraße lässt eine alte Frau im Hausfrauenkittel die blonden Kinder von Jamel einen Welpen streicheln. Was hält sie von den Lohmeyers? "Die wohnen da drüben, ich wohn' hier", antwortet sie mit norddeutschem Dialekt. Und die Nazimalereien? "Stört mich nicht." Und wie war das, als die riesige Reetdachscheune der Lohmeyers nachts lichterloh brannte? "Da hab ich nichts von mitbekommen." Eine andere ältere Frau hat etwas mitbekommen: "Ja", sagt sie vor ihrem prachtvoll weißen Gartenzaun, "aber ich habe jetzt keine Zeit." Und geht weiter mit ihrem Hund spazieren.

Im August 2015 brennt die Scheune der Lohmeyers. Zeugen sehen einen Mann wegrennen. Alles deutet auf Brandstiftung.Bild: picture-alliance/dpa/Horst Lohmeyer

Die rechten Familien haben unterdessen am Ende des Dorfes eine Hüpfburg für Kinder aufgebaut. Auch sie feiern an diesem Wochenende: Einschulungsfest. Es kommen auch Gäste von auswärts. Manche haben ihr Auto mit der Reichskriegsflagge verziert, dem Symbol der Demokratieverächter. Die Familien haben sich Stühle und Bänke zurecht geschoben. Lachend reichen sie ein Fernglas rum und beobachten, wen die Polizei am anderen Ende in das Dorf lässt.

Immer mal wieder schlendern die Männer durch das Dorf, vorbei an den gut bewachten Besuchern. Sie tragen Glatze und ihre Tatoos zur Schau. Sie sind Erscheinungen und genießen ihre Wirkung. Denn sie wissen, dass jeder der Besucher hier weiß, wie oft es in den letzten Jahren bei ihren Gegnern im Dorf gebrannt hat. Und dass bei ihrem Anführer, Sven Krüger, im Haus am Ende des Dorfes ein Maschinengewehr mit 200 Schuss Munition gefunden wurde. Und wie gewaltbereit sie sind. Und dass sie 363 Tage im Jahr hier in der Mehrheit sind. Außer eben an diesem einen Wochenende.

"Aufstehen gegen braunen Schwachsinn"

Denn an diesem Wochenende holt sich die Mehrheit im Land das Dorf zurück. Wie jedes Jahr im August. Nach dem Brand der Scheune ist die Solidarität mit den Lohmeyers groß wie nie. Fast alle Unterstützer sagen: sie könnten das nicht, in so einem Dorf leben und den Neonazis die Stirn bieten. Aber jetzt haben einige extra ihren Urlaub unterbrochen, um sich zumindest zu solidarisieren. Andere sind aus Süddeutschland angereist. Fast alle sagen, sie wollen gerade jetzt ein Zeichen setzen, wo in vielen Orten Deutschlands rechte Gewalttäter Brandanschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte verüben oder als gewaltbereiter Mob durch die Straßen ziehen. Sie wollen zeigen: wir, die Demokraten, sind die Mehrheit in diesem Land.

Forstrock gegen Rechts: Zwei Tage im Jahr kommen mehrere Hundert Freunde und Unterstützer der Lohmeyers nach Jamel.Bild: DW/H. Pfeifer

Die Lohmeyers sind überwältigt von der Solidarität. "Das ist ein sehr starkes Symbol hier", sagt Horst Lohmeyer. Die mutigen Eheleute brauchen die Unterstützung, um Kraft zu tanken für den Alltag in diesem Ausnahmedorf. Auf der Bühne werden sie zwei Tage lang immer wieder gefeiert. Der Chef der Baugewerkschaft überreicht ihnen einen Scheck über 10.000 Euro. Die Menschen, sagt er, müssten Aufstehen gegen den "braunen Schwachsinn". Das Verdienst der Lohmeyers: "Ihr habt die Nazis hier in die Öffentlichkeit geholt. Niemand kann mehr sagen: bei uns gibt es das nicht."

2015 sind auch zahlreiche prominente Gäste vor Ort in Jamel: der Ministerpräsident des Landes Mecklenburg Vorpommern würdigt die Zivilcourage und die Bundesfamilienministerin tanzt nachts beim Überraschungskonzert der Kultband "Die Toten Hosen". Rockstar Campino verneigt sich vor dem mutigen Ehepaar. Das ist zu Tränen gerührt.

Rockstar Campino: "Es gibt viele Lohmeyers, die die Stellung halten. Und denen gilt unser Respekt!"Bild: DW/H. Pfeifer

Nach zwei Tagen sind die Lohmeyers wieder alleine in ihrem Dorf. Nur die Polizei bleibt ihnen: bis auf weiteres wacht jede Nacht ein Polizeiwagen vor ihrer Tür. Weichen wollen sie nicht. Denn es ist auch ihr Dorf, das norddeutsche Jamel.

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