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Politik

"Willst Du nicht abhauen?"

2. November 2019

Wie zwei Männer den Eisernen Vorhang überwunden haben: Geschichte einer deutsch-deutschen Freundschaft, die auf einem Campingplatz in Bulgarien begann und in einem Schwimm-Marathon durch die Donau gipfelte.

30 Jahre Mauerfall - Zeitzeugen
Eckehard Walter am Donauufer in Mohacs. Vor 40 Jahren schwamm er von dort aus 40 Kilometer bis nach Jugoslawien Bild: privat

Als die Mauer fiel, machte der eine ahnungslos Urlaub in Indien und ging am Strand spazieren. Der andere saß fassungslos vor dem Fernseher in seiner Wohnung in München. Der eine lächelte ungläubig, der andere weinte vor Freude.

"Dass die DDR zusammengebrochen ist, ist das herrlichste in der deutschen Geschichte überhaupt. Es war das schönste Erlebnis in meinem Leben", erinnert sich Eckehard Walter an den Mauerfall am 9. November 1989. "Denn ohne Mauer konnte die DDR nicht existieren."

Der Ostdeutsche aus Quedlinburg hatte die Mauer schon früher überwunden. 1978 schwamm er 25 Kilometer durch die Donau - von Mohacs in Ungarn bis nach Batina im damaligen Jugoslawien.

Santana und bulgarisches Bier

Als er in diesem Herbst an den historischen Ort zurückreist, wo einst seine abenteuerliche Flucht begann, steigen Tränen in seinen Augen auf. "Für mich hätte es der letzte Tag in meinem Leben sein können. Aber es ging ein Traum in Erfüllung, ich würde es immer wieder machen", sagt er und schaut auf die breite Donau.

In Mohacs tauchte Eckehard Walter (hinten) Ostersamstagnacht 1978 in die Donau ein und überwand den Eisernen Vorhang. Eckhardt Selbach (vorne) organisierte die Flucht Bild: privat

Hinter ihm steht sein Freund Eckhardt Selbach aus Köln, der ihm bei der Flucht half. Die beiden Männer, mittlerweile in den 60ern, staunen über ihren Mut von damals. "Wir waren um die 20, wir fühlten uns unsterblich", erinnern sie sich.

Die damals verbotene Freundschaft zwischen einem "Bürger der DDR" und einem Westdeutschen hatte 1977 auf einem Campingplatz in Varna am Goldstrand in Bulgarien begonnen. Eckehard Walter und Eckhardt Selbach scherten sich nicht um die politischen Gräben zwischen BRD und DDR, sondern tranken bulgarisches Bier und hörten gemeinsam Pink Floyd, Santana und Frank Zappa.

Irgendwann stellte sich die Frage: "Willst Du nicht abhauen?" Eine Frage, die sich Eckehard Walter niemals getraut hätte. Sie traf ihn ins Mark. Nach einer Woche mit dem Westdeutschen auf dem Campingplatz war ihm klar: Ja, er wollte abhauen, und zwar auf jeden Fall, bevor er zur Nationalen Volksarmee einzogen würde!

Fühlten sich unsterblich: Eckehard Walter aus der DDR (l) und Eckhardt Selbach (r) aus WestdeutschlandBild: privat

Eckhardt Selbach wollte seinem Campingplatz-Freund bei der Flucht zu helfen, obwohl er da noch nicht wusste, worauf er sich einlassen würde. Aber die Sache ließ ihn nicht los. Wie ein Getriebener begann er nach seiner Rückkehr nach Köln, sich über mögliche Fluchtwege zu informieren.

"Du musst die Donau runterschwimmen"

Im Kofferraum von Ost- nach Westberlin? Zu gefährlich! Mit einem gefälschten westdeutschen Pass von Bulgarien in die Türkei? Ging auch nicht. Bei einem Treffen ein paar Monate später in Ostberlin sagte er zu Walter: "Wir müssen es auf die knallharte Tour tun. Du musst die Donau runterschwimmen."

Die beiden Männer begannen sich vorzubereiten. Während Eckehard Walter in Quedlinburg täglich trainierte, um seine Kondition zu verbessern, plante Eckhardt Selbach von Köln aus die Reiseroute. Er besorgte Personalausweis und Pass für Eckehard und überlegte, wie er den Neoprenanzug für ihn nach Ungarn hineinschmuggeln konnte.

Am Karfreitag 1978 fuhr Eckhardt Selbach um fünf Uhr morgens in Köln los. 22 Stunden später saß er in der 1.600 Kilometer entfernten Gaststätte am Bahnhof in Pecs in Ungarn  und wartete auf seinen Kumpel. Um ein Uhr morgens, als der Wirt die Kneipe schließen wollte, betrat Eckehard Walter endlich den Raum.

Der Eiserne Vorhang trennte im Kalten Krieg Ungarn vom damaligen Jugoslawien

Beihilfe zur "Republikflucht"

"Ich war mir immer sicher, dass er noch kommt!", sagt Eckhardt Selbach, der erst später von der schwierigen Tour seines Freundes aus Quedlinburg erfuhr. Am Ostersamstag um 20 Uhr war es schließlich soweit: Im Neoprenanzug, mit Schwimmflossen, Schnorchel, Taucherbrille und geschwärztem Gesicht glitt Walter in Mohacs in das eiskalte Donauwasser. Und auf einmal hatte nicht nur er Todesangst, sondern auch sein Kumpel.

Eckhardt Selbach erinnert sich: "Hätte mich jetzt jemand gefragt, was machst du da eigentlich, ich glaube, ich hätte alles abgebrochen. Ich hatte plötzlich Angst um unseren Freund, der gerade mit meiner Fluchthilfe den lebensgefährlichen, höchst strafbaren Tatbestand der Republikflucht beging."

Während Walter im eiskalten Wasser durch die Donau trieb, fuhr Selbach bequem mit seinem Auto über die Brücke zurück nach Jugoslawien. Er hatte sich im Vorfeld ein Visum für Ungarn im Pass besorgt und konnte so als Westdeutscher in das Ostblockland ein- und ausreisen.

Dann begann das quälende Warten. Warten auf seinen Freund Eckehard Walter. Der befand sich gerade in einer anderen Welt. Weit weg und doch ganz nah. Sein Herz raste. Jedesmal, wenn er ein Motorboot hörte oder Hunde bellten, dachte er: "Jetzt ist es aus, sie holen Dich raus."

Auf einmal wurde es taghell. Die Flutscheinwerfer an der Grenze erleuchteten die Wasseroberfläche. Walter tauchte unter, doch auf einmal lief Wasser in seinen Schnorchel hinein. "Ich konnte das Wasser natürlich nicht ausblasen, also hab ich den Schnorchel unter Wasser rausgezogen und die ganze Brühe runtergeschluckt", erinnert er sich.

Von Ungarn ins blockfreie Jugoslawien: Mit letzter Kraft schaffte es Eckehard Walter damals bis zur Brücke in BatinaBild: privat

Auf jugoslawischer Seite

Er ließ sich treiben, vermied jede Bewegung, und nach und nach entfernte er sich aus dem Leuchtkegel. Es wurde wieder dunkler. Walter wusste: Jetzt war er auf jugoslawischer Seite.

"Ich bin auf einmal ganz ruhig geworden, bin ans Ufer geschwommen, und habe mich hingesetzt und kurz ausgeruht." Er hatte es geschafft! Bis zur Brücke in Batina, wo sein Freund wartete, waren es noch zehn Kilometer. Mit letzten Kräften bewältigte er die Strecke. Als sein Freund ihn dort aus dem Wasser zog, waren seine Gliedmaßen steif und die Lippen erfroren.

Mitten in der Nacht fuhren sie auf der E 662 Richtung Osijek. Sie wollten einfach nur raus aus dem Grenzgebiet. Langsam sank der Adrenalinspiegel. Dann weiter auf dem "AutoPut", der bekanntesten Straße des Balkans. Am Ostersonntag gegen 15 Uhr erreichten sie die Grenze zu Österreich am Loiblpass.

Sie hatten unfassbares Glück. Die Zöllner winkten sie durch. Sie hatten an dem westdeutschen Personalausweis, den Selbach von einem Freund ausgeliehen hatte, der Walter ähnlich sah, nichts auszusetzen. Den DDR-Reisepass hatte Selbach zuvor verbrannt, um den Verdacht auf Fluchthilfe auszuschließen.

Tor zum Westen: Die Grenze am Loiblpass zwischen Österreich und Slowenien, damals Jugoslawien Bild: picture-alliance/dpa/arkivi

"Du bist durch, Du bist im Westen!"

Nach einem Moment des Schweigens brach sich Jubel die Bahn. "Du bist durch, Du bist durch! Du bist im Westen!!!" Im Tunnel begannen sie zu hupen und konnten ihr Glück vor Erleichterung kaum fassen. Sie fuhren durch bis München und stießen im Hofbräuhaus auf die gelungene Flucht an.

30 Jahre nach dem Mauerfall und mehr als 40 Jahre nach der spektakulären Flucht hat Eckehard Walter "mit der DDR abgeschlossen". "Ich fühle mich weder als Ossi noch als Wessi, sondern als Deutscher", sagt er. Für Ostalgiker hat er kein Verständnis. "Ich bin froh, dass es den Trabbi nicht mehr gibt, er war ein Stinker und hässlich obendrein."

Bis zum Mauerfall behielten die beiden Männer ihre Fluchtgeschichte für sich. Sie wollten nicht, dass ein noch unbekannter Fluchtweg versperrt wird. Es war ihr ganz persönlicher Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung.

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