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Politik

Brandts Kniefall: Abbitte für deutsche Schuld

Katarzyna Domagala-Pereira
4. Dezember 2020

"Es war genau die Geste, die erforderlich war, um einen Neuanfang zu machen", sagt der Historiker Peter Brandt über den Kniefall seines Vaters Willy Brandt in der polnischen Hauptstadt Warschau vor 50 Jahren.

70 Jahre Aufstand im Warschauer Ghetto Kniefall Willy Brandt
Am 7.12.1970 kniet Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Ehrenmal der Helden des Ghetto-Aufstands von 1943Bild: picture-alliance/dpa

DW: Als Ihr Vater, Willy Brandt, am 7. Dezember 1970 vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos kniete, waren Sie 22 Jahre alt und studierten Geschichte. Haben Sie Ihren Vater je nach dem Kniefall gefragt?

Peter Brandt: Wir hatten unmittelbar davor und danach kein persönliches Treffen, deswegen habe ich ihn damals nicht gefragt. Ich hatte auch den Eindruck, dass es eine sehr persönliche Geste war, die sich von selbst erklärt und bei der man nicht nachfragt. Erst viel später haben wir über die Polen-Reise und den Kniefall gesprochen, denn es war eine überraschende Aktion in einem international-politischen Vorgang.

Während der Warschau-Reise wurde ein wichtiger deutsch-polnischer Vertrag über die Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen unterzeichnet. 25 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Oder-Neiße-Grenze anerkannt.

Und ungefähr zehn Jahre später haben wir darüber gesprochen, auch wie die Geste des Kniefalls damals in Deutschland verstanden worden ist. Die Meinungen waren geteilt. In einer "Spiegel"-Umfrage meinten mehr Personen, dass es eine übertriebene Geste war. Auch in Polen waren die Meinungen nicht einhellig. Es gab nationalistische Strömungen, die gar nicht so glücklich waren, dass diese Geste am Ghetto-Denkmal stattgefunden hatte und nicht am polnischen Nationaldenkmal. Das war aber sehr bewusst. Teile der polnischen Bevölkerung reagierten eher distanziert oder ablehnend, doch bei manchen löste die Geste eine tiefe Erschütterung aus.

Das Denkmal des Kniefalls auf dem Willy-Brandt-Platz in WarschauBild: Jürgen Raible/akg-images/picture alliance

Damals veröffentlichte die polnische Presse das Bild vom Kniefall nicht. Später wurde Willy Brandt so gezeigt, dass man nicht erkennen konnte, dass er vor dem Ghetto-Denkmal kniet. Im kommunistischen Polen passte das propagandistisch nicht ins Bild. Hat Willy Brandt mit Ihnen über die schwierige deutsch-polnische Versöhnung gesprochen?

Ja, immer wieder. Sie war lange vor allem durch die Frage der deutschen Ostgrenze belastet. Damals sagte man noch "deutsche Ostgebiete". Auch die Sozialdemokratie näherte sich diesem Thema sehr vorsichtig – aus innenpolitischen Gründen, um in dieser Wählergruppe (Anm.d.Red.: Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen, DW) keinen völligen Verlust zu erleben. Ab Mitte der 1960er Jahre führte man sich dann doch stärker vor Augen, was Nazideutschland in Mittel- und Osteuropa angerichtet hatte. Da kamen viele realpolitische und versöhnungspolitische Gesichtspunkte zusammen.

Brandt (l.) und Polens Ministerpräsident Josef Cyrankiewicz (r) nach der Unterzeichnung des deutsch-polnischen VertragsBild: picture-alliance/dpa

Willy Brandt war der erste Bundeskanzler nach dem Krieg, der Polen besuchte. Das muss sehr emotional gewesen sein…

Meine Mutter hat mir einmal eine Anekdote erzählt. Sie fühlte sich sehr stark bewegt durch den Kniefall in Warschau und fragte: "Hast du das geplant oder nicht?" Und dann die typische Willy-Antwort: "Irgendetwas musste man tun". Also war sie hinterher genau so klug wie vorher.

Und wie sehen Sie das?

Ich gehe davon aus, dass es für ihn keine Routine-Angelegenheit war und auch nicht reine Berechnung. Aus meiner Sicht ging es darum, dass hier jemand, der persönlich völlig schuldlos ist, ja, sogar gegen diese Tyrannei gekämpft hatte, für sein Volk Abbitte leistet. Und ich glaube, dass das auch so verstanden worden ist. International hat die Geste eine starke Resonanz gefunden. Übrigens war Willy Brandt immer ein scharfer Gegner des Vorwurfes der Kollektivschuld, aber es gab diese kollektive Verantwortung. Das war genau die Geste, die erforderlich war, um einen Neuanfang zu machen. Nicht nur im Verhältnis zu den Polen, sondern überhaupt, um Deutschland neu zu positionieren.

1965: Willy Brandt (2.v.r.) mit seiner Frau Rut (m) und den Söhnen Peter (1.v.l.), Lars (2.v.l.), und Matthias (vorne)Bild: Philipp/dpa/picture-alliance

Ihr Vater hätte nicht knien müssen. Er selbst gehörte im Dritten Reich zu den politisch Verfolgten, ist nach Norwegen und Schweden geflüchtet.

Das ist eine Verantwortung, die man freiwillig als Repräsentant des deutschen Gemeinwesens übernimmt. Und diese Frage hat ihn schon am Ende der Kriegszeit beschäftigt.

Die "Bild"-Zeitung kommentierte damals: "Dieses katholische Volk weiß, dass man nur vor Gott kniet. Und da kommt ein vermutlich aus der Kirche ausgetretener Sozialist aus dem Westen und beugt die Knie. Das rührt das Volk". Ihr Vater soll empört auf diese Worte reagiert haben. Welche Rolle spielte Religion in seinem Leben?

Er war kein Atheist, sondern Agnostiker im Sinne von: Vielleicht gibt es da etwas, wir wissen es nicht. Er hat verärgert auf diese Bemerkung der "Bild"-Zeitung reagiert: "Wissen diese ***, wovor ich gekniet habe?".

Willy Brandt ist für seine Ostpolitik bekannt. Wo sehen Sie als Historiker seine größten Verdienste auf diesem Feld?

Er hat eine Chance erkannt. In einer weltpolitischen Lage, in der die beiden Supermächte sich nach dem drohenden Atomkrieg während der Kuba-Krise entschlossen hatten, dafür zu sorgen, dass sie nicht gegeneinander Krieg führen. Die Gruppe von konzeptionellen Denkern und Praktikern um Willy Brandt hat dieses als Chance begriffen. Man konnte nicht absehen, ob und wann es zu einer Auflösung des Ostblocks führen würde.

10.12.1971: Die Vorsitzende des Nobelpreis-Komitees, Aase Lionaes (r) überreicht Willy Brandt den FriedensnobelpreisBild: picture-alliance/dpa

Das war ein neuer politischer Ansatz, sehr langfristig angelegt und auf Umwege gehend, auch Missverständnisse zwangsläufig mit sich bringend. Diese Ausgangsposition und der Wille, das auch innenpolitisch auszufechten, ist beachtlich. Es spricht auch für die Substanz dieses Ansatzes, dass er nach dem Ende der sozialliberalen Koalition nicht zurückgenommen worden ist. Die Akzente sind anders gesetzt, aber die Linie ist fortgeführt worden.

Was spürten Sie, als Ihr Vater für seine Ostpolitik den Friedensnobelpreis erhielt?

Ich hatte mit ihm zwar auch politische Differenzen, aber ich habe ihm den Nobelpreis sehr gegönnt. Es hat mich mit Genugtuung erfüllt.

Ihre Beziehung zu ihrem Vater war nicht immer einfach. Als junger Mann waren Sie Trotzkist, wurden sogar zu zwei Wochen Jugendarrest verurteilt. Hat Willy Brandt Sie spüren lassen, dass Ihre Aktivität seiner politischen Karriere schaden kann?

Ja, gelegentlich, aber sehr selten. Es gibt dieses Sprichwort: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Er war in seinen jungen Jahren auch ziemlich radikal gewesen, ein Linkssozialist, und insofern wäre das etwas merkwürdig gewesen. Er hätte auch keinen großen Erfolg bei mir gehabt. Er hätte seine finanzielle Unterstützung während meiner Studienzeit beenden können, aber auch das hätte nichts bewirkt, es hätte höchstens unsere Beziehung ruiniert. Ich glaube, er war auch jemand, der sehr entschieden der Meinung war, dass man seine eigenen Erfahrungen machen muss.

Peter Brandts (m) Festnahme am 6. Juni 1968. Er war nicht der Polizei-Aufforderung gefolgt, Demonstrationen zu verlassenBild: Konrad Giehr/dpa/picture-alliance

Empfanden Sie Ihren Vater als charismatisch? Hatte er auch im Privatleben eine gewisse Aura?

Er hatte viele Gesichter im Privaten und das Charismatische war sicher eines davon. Ich denke, es gab schon diesen charismatischen Moment, aber nicht einen charismatischen Vater. Für mich war er ein normaler Vater. Ich konnte natürlich gelegentlich Unterschiede zu anderen Vätern wahrnehmen, zum Beispiel, dass er nicht automatisch um eine bestimmte Uhrzeit zu Hause beim Abendessen saß.

Sie haben einmal gesagt, dass es auch stressig war, als Sohn von Willy Brandt vorgestellt zu werden. Wie meinen sie das?.

Persönlich war es eine gewisse Erleichterung, als er nicht mehr Bundeskanzler war und nicht mehr so weit vorne stand. Wenn Sie 20 sind, können Sie nichts anderes sein als der Sohn von... Mit 30 ist es vielleicht schon anders. Wenn man selber etwas gestaltet, wächst man automatisch aus der Rolle des Sohnes heraus. Heute habe ich kein Problem mehr damit. Ich habe damals jedoch nicht den Eindruck gehabt, dass ich automatisch irgendwelche nennenswerte Vorteile davon gehabt hätte, der Sohn von Willy Brandt zu sein. Es war sicher auch noch einmal etwas anderes für meinen jüngsten Bruder, der dann Personenschutz bekam. Das spielte für mich alles überhaupt keine Rolle. Ich hatte ein relativ normales Leben.

Willy Brandt (1.v.l.) und US-Justizminister Robert Kennedy (2.v.l.) besichtigen am 22.2.1962 die Berliner MauerBild: picture-alliance/dpa

Normal? Kennedy hat Ihnen eine Entschuldigung für die Schule geschrieben...

Robert Kennedy, "Bobby", der Justizminister. Er war 1962 zwei Tage in Berlin und wollte auch uns Kinder sehen. Daraufhin sagte meine Mutter, dass wir zur Schule müssen. Er bestand jedoch darauf. Die Entschuldigung war lustig: "Peter und Lars mussten an wichtigen Unterredungen, die die Freiheit Berlins und der Vereinigten Staaten betrafen, teilnehmen". Es war mir eher unangenehm. Das konnte man in der Schule nicht vorzeigen. Später mussten unsere Eltern eine extra Entschuldigung schreiben.

Wie haben Sie als Kind Zeit mit Ihrem Vater verbracht?

Er hatte sehr wenig Zeit. Nicht ganz so wenig wie später, als er Spitzenämter innehatte, doch deutlich weniger als andere Väter. Wenn er aber da war, hat er sich gekümmert und war zugewandt. Das war mein Empfinden, wenn er mit uns spielte, spazieren ging, wenn man ihm etwas erzählte.

Haben Sie eine Erinnerung, die Ihnen besonders nahe ist?

Ja, eine Situation, als der Kalte Krieg auf familiäre Normalität traf. Das war im August, September 1962, ich war 13 Jahre alt. Mein Vater hat gewartet, bis meine Brüder und die Mutter schlafen gehen und mir dann gesagt: Wenn er längere Zeit nicht nach Hause käme, dann wäre ich der Älteste und müsste die Mutter unterstützen. "Du bist dann der Mann zu Hause."

Kalter Krieg: Ein britischer Militär-LKW steht am 07.11.1961 vor dem abgesperrten Sowjetischem Ehrenmal in West-BerlinBild: dap/picture-alliance

Das hat mich sehr beeindruckt und ich habe mich gefragt, was eigentlich los ist. Der Hintergrund war, dass er einen Hinweis auf einen möglichen Blitzangriff auf West-Berlin bekommen hatte. Die Westalliierten hatten sowjetische Truppenbewegungen registriert. Damals gab es die Idee, dass die Westberliner Senatsregierung einen kleinen Bezirk der Stadt bis zum Schluss verteidigen wird. Das alles habe ich erst hinterher erfahren. Damals bei dem Gespräch merkte ich, dass er mich sehr ernst nahm.

Auch Willy Brandt wollte Historiker werden. Hat Ihr Vater Sie beruflich geprägt?

Ich glaube, dass wir beide sowohl das Kontemplativ-Analytische als auch das Aktivistische haben. Bei mir hat dann letzten Endes das Erste den größeren Einfluss gehabt, was aber nicht heißt, dass das andere keine Rolle in meinem Leben spielt.

Sie sind auch in der SPD aktiv?

Nicht als Funktionär. Ich bin Mitglied und in erster Linie politisch-publizistisch tätig.

Das Gespräch führte Katarzyna Domagala-Pereira

Bild: picture-alliance/dpa/B. Reichert

Prof. em. Dr. Peter Brandt (Jahrgang 1948), ist Historiker und war bis zum Ruhestand Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Fernuniversit舩 in Hagen.

 

Katarzyna Domagala-Pereira Journalistin und Publizistin, stellvertretende Leiterin von DW-Polnisch.