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"Wir geben nicht auf"

Greta Hamann, Julia Weiß, Athen11. Juni 2014

Vor einem Jahr schloss Griechenlands Ministerpräsident den staatlichen Rundfunksender ERT. Rund 400 der entlassenen Mitarbeiter machen bis heute weiter Programm - ohne Bezahlung und gegen viele Widerstände.

Im Studio von ERT Open Rundfunk Griechenland (Foto: Greta Hamann)
Bild: DW/Greta Hamann

Es ist 13 Uhr. Der Radiojingle ertönt. ERT Open-Nachrichten. Danach muss er ins Studio: Nikolas Tsimpidas steht noch neben der Technikerin, schaut seiner Kollegin, die im Studio die Nachrichten vorliest, durch die Glasscheibe zu. Er läuft in dem kleinen Raum hin und her. Tsimpidas ist ein großer Mann. Sein schwarzer Bart versteckt seine Mimik, seine langen Haare reichen bis an die Schultern, eine Strähne ist rot gefärbt. Um die Hüfte trägt er eine lederne Gürteltasche. Aus dieser holt er immer wieder sein Handy, es klingelt oft.

Nikolas Tsimpidas im kleinen ERT Open RadiostudioBild: DW/Greta Hamann

Nikolas Tsimpidas moderiert eine tägliche Radiosendung. Meistens spricht er mit Kollegen über aktuelle politische Ereignisse oder interviewt Politiker. Auch heute führt er ein Livegespräch mit einem Mitglied der extremen linken Partei Syriza.

Wenn Nikolas Tsimpidas keine Lust auf seine Arbeit hätte, könnte er auch einfach zu Hause bleiben. Denn er hat keinen Chef und keinen Vertrag. Sein Sender, ERT Open, besteht nur weiter, weil er und seine Kollegen ihn am Leben erhalten.

Schwarze Bildschirme und stumme Radios

Neben seinem Studio hängt ein großes Bild an der Wand, das an die Tage der Geburt von ERT Open erinnert. Und an den Tag, an dem sein alter Sender ERT (Elleniki Radiofonia Tileorasi) starb. Das Foto zeigt tausende Demonstranten, die vor einem großen gelblich verputzten Rundfunkgebäude stehen. Es sind so viele Menschen, dass selbst die viel befahrene Straße, die eigentlich direkt vor dem Gebäude verläuft, nicht mehr zu erkennen ist.

Die Schließung stets im Auge. Ein großes Foto an der Wand erinnert an den Tag im Juni 2013Bild: DW/Greta Hamann

Die griechische Regierung unter Ministerpräsident Antonio Samaras beschloss damals, den öffentlich-rechtlichen Sender ERT zu schließen. Am 11. Juni 2013, um kurz nach 23 Uhr, wurden die Bildschirme schwarz und die Radios stumm. Der Grund: Man müsse sparen, ERT sei ineffizient, betreibe Vetternwirtschaft und Gefälligkeitsjournalismus. 2650 Menschen standen von einem auf den anderen Tag ohne Arbeit auf der Straße.

"Wir hatten keine andere Wahl"

Mehr als die Hälfte der ERT-Mitarbeiter beschloss im Juni 2013, dass sie sich nicht stumm schalten lassen wollte und sendete über das Internet weiter. Heute sind es noch rund 400 Leute. "Wir hatten keine andere Wahl, als weiter zu machen. Wir hatten nichts zu verlieren. Die Regierung hat uns nichts gelassen außer diesen steinigen Weg. Was sollten wir also tun, als ihn zu gehen?", sagt Tsimpidas heute. Vier Monate hielten er und seine Kollegen das ERT-Gebäude besetzt - bis griechische Polizisten es stürmten. Das war am 7. November 2013.

Heute muss Nikolas Tsimpidas nur aus dem Fenster schauen, um seine alte Arbeitsstätte, hier in einem Athener Vorort, zu sehen. Er und seine Kollegen bezogen ein Bürogebäude direkt gegenüber. Zwei Radiostudios und ein paar Büros sind alles, was sie sich durch die Spenden ihrer Zuhörer und Zuschauer leisten konnten.

NERIT soll ERT ersetzen

Im Gebäude auf der anderen Straßenseite sendet jetzt ein neuer Sender: NERIT (Nea Elliniki Radiofonia, Internet kai Tileorasi. Deutsch: Neues griechisches Radio, Internet und Fernsehen). Die Regierung hat ihn eingesetzt, er soll das gleiche machen wie ERT zuvor - nur besser.

Der Blick aus dem Fenster zeigt das alte ERT- und das neue NERIT-GebäudeBild: DW/Greta Hamann

Nikolas Tsimpidas hat eine ganz klare Meinung zu diesem Sender: "NERIT ist kein öffentlich-rechtlicher Sender, er ist nicht einmal ein Staatssender. Es ist Regierungs-TV. Er wird komplett von der Regierung kontrolliert." Die Mitarbeiter von NERIT, fast alle ehemalige ERT-Journalisten und Techniker, unterstehen dem Finanzministerium. Das Parlament entscheidet über Bestehen oder Nichtbestehen des Senders.

"Alles ist wie auf den Kopf gestellt"

Auch George Pleios sieht den neuen staatlichen Rundfunk NERIT sehr kritisch. Der Professor für Medien und Journalismus an der Universität von Athen hat sich mit der Schließung von ERT beschäftigt. Er hat persönlich an die Regierung appelliert, den Sender lediglich umzustrukturieren, jedoch nicht gleich zu schließen.

Er sieht für die Pressefreiheit im eigenen Land schwarz und das nicht erst, seit ERT geschlossen wurde: "In einer idealen Situation sollten die Medien die Interessen der Öffentlichkeit vertreten, um die Regierung zu kontrollieren." In Griechenland und besonders nach der Finanzkrise sei es aber genau umgekehrt. "Alles ist wie auf den Kopf gestellt: Die Medien sind nicht mehr der Aufpasser, sie sind nicht mehr der Schiedsrichter. Sie sind der 12. Spieler auf dem Platz und vertreten ihre eigenen politischen Interessen."

Auf der Rangliste der Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen ist Griechenland innerhalb der vergangenen fünf Jahre um 50 Plätze nach hinten gerutscht.

NERIT sollte besseren und unabhängigeren Journalismus machen als ERT, so der Plan der Regierung. Doch viel geändert habe sich nicht, erzählt eine NERIT-Mitarbeiterin der DW: "Es gibt keinen Druck von oben oder so. Die Chefetage entscheidet die Richtung des Programms, doch jeder Redakteur kann sein Programm frei gestalten. Im Grunde arbeiten wir genau so wie zuvor bei ERT", so Helena Alevisu.

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Mehr Freiheit - aber kein Geld

Nikolas Tsimpidas und seine ERT Open-Kollegen wollen es anders machen. Noch nie seien sie so frei gewesen wie jetzt, erzählen sie. Bei ERT Open ist jeder Mitarbeiter gleich, es gibt keine Hierarchie. Die Belegschaft hat lediglich einen Vertreter gewählt, der ihre Interessen in der griechischen Journalistenunion vertritt. Tsimpidas bekam die meisten Stimmen bei dieser Wahl. "Es ist sehr befreiend nicht mehr unter dem Schirm der Regierung zu stehen. Es gibt uns die Möglichkeit, freier zu berichten. Besonders wenn es um soziale Themen wie Armut und Arbeitslosigkeit gibt. Das war bei ERT oft ein Problem. Doch das sind gerade in Zeiten der Krise wichtige Themen."

Doch die Freiheit hat auch ihren Preis: Tsimpidas und seine Kollegen leben seit ihrer Entlassung vom Arbeitslosengeld, rund 500 Euro monatlich für Tsimpidas. Seine Familie unterstützt ihn zusätzlich. Kollegen, die nicht auf Hilfe von der eigenen Familie setzen können, erhalten Essens-Pakete von der nationalen Journalistenunion.

Lebensmittelpakete für ERT Open-Mitarbeiter

"Jeden Montag geben wir ein großes Paket mit Öl, Pasta, Milch und solchen Dingen an 150 Familien. Außerdem erhalten sie eine Karte mit einem Geldbetrag, die sie in einem Supermarkt einlösen können, um sich Essen zu kaufen", sagt Marilena Katsimi von der Journalistenunion.

Heute, ein Jahr nach der Entlassung, läuft Tsimpidas Arbeitslosenhilfe aus. Auch die seiner rund 400 Kollegen. Gleichzeitig endet auch ihre Krankenversicherung. Noch wissen sie nicht, wie es jetzt weiter gehen soll. Vielleicht versuchen sie doch, Sponsoren zu finden, vielleicht versuchen sie sich als Kooperative mit finanzieller Beteiligung ihrer Zuhörer und Zuschauer. Sie wissen es nicht. Am 11. Juni 2013 habe er aufgehört, Pläne für die Zukunft zu machen, sagt Tsimpidas.

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