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"Wir haben alle irgendwas genommen"

Joscha Weber20. August 2013

Doping? Bisher zuckt die Fußballwelt da nur ahnungslos mit den Achseln. Aussagen von Franz Beckenbauer und Bernd Schuster offenbaren nun aber eine beängstigende Mentalität: schlucken, was der Arzt gibt.

Der ballführende deutsche Mittelfeldspieler Bernd Schuster (M) wird von zwei belgischen Gegenspielern angegriffen. Die deutsche Fußballnationalmannschaft gewinnt am 29.02.1984 im Brüsseler Heysel-Stadion das Länderspiel gegen Belgien mit 1:0.
Belgien Deutschland Fußball Länderspiel 1984 in BrüsselBild: picture-alliance/dpa

Fußball ist Religion. Ein Satz, der auf den ersten Blick übertrieben wirkt, auf den zweiten Blick aber durchaus schlüssig erscheint. In 208 Ländern spielen laut Weltverband FIFA rund 265 Millionen Menschen organisiert Fußball. Fans hat das Spiel mit dem Ball weltweit aber noch viel mehr: 3,2 Milliarden Menschen verfolgten die WM 2010 im Fernsehen, rechnete die FIFA aus. Fast die halbe Weltbevölkerung schaut also Fußball. Ihnen gemeinsam ist der Glaube - an ihr Team, den Titel, den Klassenerhalt oder das nächste Tor. Die Protagonisten auf dem Rasen werden zu Heroen, manchmal gar (Fußball-)Göttern erhoben, ihnen huldigen die Massen auf den Rängen, vor den Fernsehern, im Getümmel der Fanmeilen. Doch der Glaube an jene Götter in Shorts und Stutzen wird dieser Tage auf eine harte Probe gestellt: Sind viele der tollen Flügelläufe und Dribblings nur möglich dank Pillen und Spritzen? Wird im Profifußball gedopt? Noch ist der Glaube stark, aber der Zweifel wächst.

Es sind ausgerechnet die ganz großen Stars der Vergangenheit, die derzeit selbst einen Schatten auf die glitzernde Fußball-Welt werfen. Nehmen wir zum Beispiel den größten aller Fußballer in Deutschland, Franz Beckenbauer. Der sagte unlängst in der deutschen Sportsendung "Aktuelles Sportstudio": "Natürlich haben wir auch unsere Vitaminspritzen bekommen. Ja Vitaminspritzen, keine Ahnung. Der Doktor hat gesagt, das ist eine Vitaminspritze. Aber ist eine Vitaminspritze Leistung steigernd oder ist das Doping? Ich weiß es nicht. Was iss'n Doping?" Vitaminspritzen, von denen er also gar nicht wusste, ob es denn welche waren. Und was Doping ist, weiß er nicht, wohl aber, dass es im Fußball nichts bringe: "Ich war ja immer der Meinung: Doping im Fußball macht keinen Sinn, weil du jeden zweiten, dritten, vierten Tag ein Spiel hast. Und man weiß ja, wenn Du dich dopst, erzielst du damit ja eine leistungssteigernde Wirkung. Also braucht der Körper eine gewisse Zeit, um sich zu erholen."

Doping im Fußball: Sinnlos, weil zu anstrengend?

Wir können nur ahnen, was Beckenbauer sagen will: Doping im Fußball ist demnach sinnlos, weil es ja viel zu anstrengend ist zwischen all den Spielen? Eine abenteuerliche Begründung des "Fußball-Kaisers", schließlich sind gerade die in kurzen Zeitabständen wiederkehrenden hohen Belastungen ein Argument für manchen Sportler, sich zu dopen um so die Regenerationsfähigkeit des Körpers zu steigern – siehe im Profiradsport.

Während die Zuschauer im "Aktuellen Sportstudio" über Beckenbauers zur Schau gestellte Ahnungslosigkeit in Sachen Doping mehrmals laut lachen mussten, verdeutlichen nun die Aussagen eines weiteren deutschen Fußball-Helden, wie ernst die Sache wirklich ist. Bernd Schuster, Europameister 1980 und aktuell Trainer des FC Malaga, sagte der Zeitschrift "Sport Bild": Wenn Doping der "reinen Regeneration" diene, "habe ich kein Problem damit. Wenn ein Spieler nach einer Verletzung zwei, drei Wochen schneller wieder fit ist, dann macht das doch sogar Sinn." Es gehe darum, so Schuster, den verletzten Spieler "so schnell wie möglich wieder auf sein Niveau zu bringen". Aha. Doping macht also doch Sinn im Fußball, wenn es lahme Kicker wieder flott macht.

Bernd Schuster bekam "irgendwelche Sachen" vom Arzt und nahm sie einBild: picture-alliance/dpa

"Irgendwelche Sachen" vom Arzt bekommen und geschluckt

Wie Beckenbauer scherte sich auch Schuster nicht groß darum, was ihm damals als Spieler so alles verabreicht wurde: Es sei üblich gewesen, "manchmal sogar am Morgen vor dem Spiel", dass "dir die Ärzte und Physios irgendwelche Sachen" gegeben haben. "Wir haben alle irgendwas genommen." Eine Aussage mit Sprengkraft, denn bisher kommentiert die Fußball-Welt Doping-Fragen meist mit einem Achselzucken - betrifft uns ja nicht. Schuster, der unter anderem für Real Madrid, den FC Barcelona, Bayer Leverkusen und den 1. FC Köln spielte, deutet mit seinen Aussagen aber regelmäßigen und üblichen Medikamentengebrauch im Fußball der 80er und 90er Jahre an. Und damit nicht genug: Mit Blick auf die heutige Generation beklagt Bernd Schuster eine noch gestiegene Anzahl von Behandlungsmitteln im Fußball. "Manche Spieler haben in ihrem Kulturbeutel mehr Pillen und Tablettenpäckchen dabei als Deo und Parfüm. Die sind sehr empfindlich, brauchen für alles irgendwas."

Die EM-Siegerelf 1980: Unterschiedliche Wahrnehmungen zu Doping bei Schumacher (2.v.l.) und Schuster (4.v.l.)Bild: picture alliance/dpa

Sicher, die Aussagen von Schuster und Beckenbauer lassen keine gesicherten Rückschlüsse auf die tatsächlich verwendeten Mittel zu - wohl aber eine Geisteshaltung erkennen: schlucken, was der Arzt gibt. Und Doping? Kein Thema. "Weil es das als Wort allein, so wie wir es heute kennen, gar nicht gab", erinnert sich Schuster. Eigenartig, denn das Wort gibt es bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts und Dopingkontrollen seit 1968 - lange vor Schusters aktiver Zeit als Fußballprofi. Nicht zu vergessen die Einblicke, die Harald "Toni" Schumacher 1986 mit seinem Buch "Anpfiff" in die Medikamentenschränke der Bundesliga gewährte. Schumacher berichtete über Doping mit Aufputschmitteln und flog dafür aus der Nationalelf.

Von den Helden von Bern bis Pep Guardiola

Es ist dieses demonstrative Wegsehen der Fußballwelt, das stutzig macht. Schließlich ist Doping alles andere als ein Fremdwort im Fußball: Es gibt Hinweise, dass die deutsche Weltmeistermannschaft von 1954 leistungssteigernde Mittel nahm, Spuren von Ephedrin fanden sich bei deutschen WM-Spielern von 1966, Argentiniens Fußball-Star Maradona wurde positiv auf Kokain getestet, Pep Guardiola sowie Frank de Boer auf Nandrolon und Zeugenaussagen sowie Gerichtsurteile legen sogar den Verdacht von systematischem Doping bei den Klubs Juventus Turin und Olympique Marseille in den 90er Jahren nahe – um nur ein paar prominente Fälle zu nennen. Insgesamt listet die "Anti-Doping Database" des norwegischen Journalisten Trond Husø 212 Dopingfälle im Fußball auf.

Der erste Dopingfall im deutschen Fußball: Roland Wohlfarth wurde 1995 für drei Monate gesperrtBild: picture-alliance/dpa

Frühere Nationalspieler wie Klaus Allofs, Wolfgang Overath und Rudi Völler erklärten in Interviews, nichts von Dopingpraktiken in ihrer aktiven Zeit mitbekommen zu haben. Sehr deutlich äußerte sich dagegen Dieter Schatzschneider, ehemaliger Torjäger von Hannover 96 in einem Interview mit dem NDR: "Man muss nicht rumheucheln oder alles auf den Osten schieben. Wir haben hier genauso gedopt im Westen. Früher wurden die Präparate im Bus rumgeschmissen, da brauchte man nur zugreifen. Captagon - das ist ein Aufputschmittel. Das haben Fußballer halt früher genommen", sagte Schatzschneider über den Umgang mit den Präparaten. Er habe zwar niemals selbst zu Dopingmitteln gegriffen, sei aber Augenzeuge gewesen, als andere Spieler sich gedopt hätten. Namen wollte er nicht nennen. "Mir soll keiner erzählen, dass das nicht bekannt war mit dem Captagon. Da müssten ja alle im Westen völlig verblödet sein!" Captagon stand als klassisches Aufputschmittel schon ab 1972 auch beim Deutschen Fußballbund auf der Liste der verbotenen Präparate.

Im Nachgang der Studie über Doping in Westdeutschland können sich dann plötzlich auch weitere Fußballer erinnern, dass das Wort mit "D" im Fußball-Wortschatz tatsächlich vorkommt: Paul Breitner, Weltmeister 1974, sagte dem österreichischen Sender "Servus TV": "Es wäre vermessen, wenn wir Fußballer so tun würden, dass nur die Leichtathleten, die Schwimmer, diejenigen wären, bei denen es Doping gab. Nein", meinte Breitner, der sich damit konkret auf die Jahre 1986 und 1987, also die Zeit des Buches von Toni Schumacher bezieht. "Natürlich war auch in den Jahren davor, die ich überblicken kann, Doping ein Thema im Fußball. Wer das so wegwischt, ist ein Pharisäer für mich", machte der 61-Jährige klar.

Rätselhafte Todesfälle unter italienischen Fußballern

So genannte Pharisäer, umgangssprachlich mit "Heuchler" gleichgesetzt, scheint es auch im italienischen Fußball zu geben, der zumindest in den 90er Jahren ein Dopingproblem hatte - und es bis heute nicht richtig aufarbeiten will. Dabei sind die Folgen gravierend: Mehrere italienische Fußballspieler erkrankten und verstarben in den vergangenen Jahren an dem sogenannten "Gehrig-Syndrom" (auch: Amyotrophe Lateralsklerose, ALS), eine schwere Erkrankung des motorischen Nervensystems. Im Juni starb der ehemalige italienische Nationalspieler Stefano Borgonovo im Alter von nur 49 Jahren. Bemerkenswert: Die Universität Pavia stellte bei einer Untersuchung italienischer Fußballprofis ein "ernsthaft erhöhtes Risiko für das Erkranken an ALS" vor dem 49. Lebensjahr fest. Führte Doping im italienischen Fußball zu den tödlichen Erkrankungen? Der auf Doping-Untersuchungen spezialisierte Turiner Staatsanwalt Raffaele Guariniello ermittelt weiter in diesem Fall und ist dabei bisher auf umfangreiche Daten gestoßen.

Die Götter in Shorts und Stutzen sind - das legen die umfangreichen Be- und Hinweise nahe - vielleicht doch nur ganz normale Menschen, mit Fehlern und vor allem keinen übernatürlichen Kräften. Ob jene Kräfte illegal medikamentös gesteigert wurden und werden bleibt zumindest vorerst eine Frage des Glaubens.

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