Wir haben die Wahl
17. September 2021Je vielfältiger die Parteienlandschaft, desto größer die Wahrscheinlichkeit von Koalitionen und um so schwerer die Qual der Wahl. Nein, eine Qual sollten wir nicht nennen, was viel mehr ein Privileg ist, ein Recht und für mich eine selbstverständliche Pflicht. Angesichts einer größeren Parteienvielfalt ist die Wahl jedoch nicht leichter geworden. Man kann strikt nach seiner Überzeugung wählen, aus taktischen Gesichtspunkten die Erst- und Zweitstimme splitten, mögliche Koalitionen bedenken und selbst, wenn wir keine/n Kanzler/in wählen, sind die genannten Kandidaten für viele doch ein wichtiges Kriterium.
Ein ebenfalls nicht zu unterschätzender Faktor sind die Umfrageinstitute und das, was sie uns Woche für Woche mitteilen. Mal liegt die eine Partei vorne, doch dann wird etwas über die Spitzenkandidatin bekannt und die Werte verschlechtern sich. Dafür steigt ein anderer in die Beliebtheitsskala, doch dann macht dieser Kandidat einen Fehler und der Dritte darf sich freuen – doch wer weiß, wie lange?
Die Wahlbriefunterlagen wurden in diesem Jahr sehr früh verschickt. Deswegen hörte man Stimmen, die vor einer allzu frühen Wahlentscheidung warnten, denn es könne ja noch in den Tagen vor dem 26.09. etwas bekannt werden, das die Wahl maßgeblich beeinflussen könnte. Und damit bin ich bei einem Problem, das ich habe. Ich habe es nicht mit der Parteienvielfalt oder den Spitzenkandidaten, nicht mit der Erst- oder Zweitstimme, nicht mit den Koalitionsmöglichkeiten - - - ich habe es mit uns, dem Wahlvolk. Spätestens alle vier Jahre werden wir an die Urnen gerufen und keiner sollte sich die Wahl leicht machen. Doch bin ich der Meinung, dass man seine Entscheidung nicht abhängig machen sollte von einem momentanen Umstand oder Ereignis kurz vor der Wahl. Zu meinem Demokratieverständnis gehört deswegen ebenso, dass ich meine Entscheidung nicht schon wenige Wochen oder Monate nachher revidieren möchte. Aus dem Zusammenspiel von der Grundausrichtung einer Partei und der sie repräsentierenden Persönlichkeiten fälle ich meine Wahl. Das durch die Bildung von Koalitionen nachher auch Kompromisse gemacht werden, das weiß jeder Wahlberechtigte vorher. Die Stärke der Demokratie ist es, mit meiner Stimme zu einem möglichen Regierungs- und Politikwechsel beizutragen. Doch habe ich ein Problem damit, wenn zu viele Menschen zu schnell, oft aufgrund eines einzelnen Ereignisses, ihre Wahl fällen oder nach den ersten hundert Regierungstagen wieder revidieren möchten. Wem ich für vier Jahre meine Stimme gegeben habe, der sollte sich meiner Unterstützung auch wenigstens die halbe Legislaturperiode sicher sein. Im Rückblick auf die erbrachten Leistungen und im Vorausblick auf die zu bewältigenden Aufgaben mache ich dann bei der nächsten Wahl mein Kreuz bei derselben, oder eben bei einer anderen Partei.
Ich bin dankbar, in einem Staat zu leben, in dem nicht die Religion bestimmend ist, denn mit dem Evangelium lässt sich kein Staat machen. Und ich froh, dass die Bischöfe auch keine Hirtenworte mehr zur Wahl schreiben. Alle Parteien haben sowohl Christen in ihren Reihen als auch unter ihren Wähler/innen. Parteien und Menschen, deren Überzeugungen ich teile, gebe ich gerne meine Stimme. Ist diese Überzeugung auch geprägt von der Botschaft Jesu, dann finde ich das gut. Doch ich vermag kaum zu ermessen, ob sie dem Anspruch gerecht werden, kann man doch die Aussagen des Evangeliums sehr unterschiedlich werten und interpretieren. Das Evangelium ist ein guter Maßstab für mich und mein Leben als Christ. Doch es wird schnell zu Moralkeule, wenn es gebraucht wird, um damit die Christlichkeit anderer zu prüfen.
In diesem Falle kehre ich lieber vor meiner eigenen Türe, erfreue mich an der Qual der Wahl und nehme mein Recht war. In den Jahren zwischen den Wahlen bin ich bemüht, mit meinen Möglichkeiten unsere Gesellschaft im Geiste des Evangeliums mitzugestalten.
Thomas Frings, * 1960 in Kleve am Niederrhein, Studium der kath. Theologie, Philosophie, Kunstgeschichte und klassischen Archäologie, Priester seit 1987, wohnhaft in Köln