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"Wir können das Wissen nicht abschotten"

23. August 2005

Wie viel Würde bleibt einem Menschen im Zeitalter der Gentechnologie? Kann man "zu viel" wissen? DW-WORLD sprach mit Wolfgang van den Daele, Mitglied des Nationalen Ethikrates.

Stammzellforschung: eine Zukunftstechnologie?Bild: dpa


DW-WORLD: Im Grundgesetz steht, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. Wer definiert, was Würde ist und wie sich diese Unantastbarkeit manifestiert?

Wolfgang van den Daele: Die Würde des Menschen in der Verfassung ist zu allererst der Schutz des einzelnen Menschen und seiner Selbstbestimmung vor der Willkür des Staates. Aber: Kann die Würde womöglich zur Grenze der Selbstbestimmung werden? Ist also das Konzept der Würde die Grenze oder die Begründung der Freiheit? Im Moment gibt es angesichts der Tatsache, dass die Biotechnologie unser Leben und auch die menschliche Natur verändern kann, eine Tendenz zu sagen: Die Würde muss man objektiv definieren.

Und was heißt hier "objektiv"?

Es hat immer wieder Versuche gegeben, die Menschenwürde zu definieren unter Rückgriff auf kulturelle Werte. Aber Werte sind historisch wandelbar. Das ist das Problem: Wollen wir eine objektive Würde anerkennen, die der freien Entscheidung der Betroffenen entgegensteht? Das betrifft so Fälle wie Drogenkonsum, Peepshow-Auftritte, Schönheitsoperationen und anderes, bei denen die Betroffenen ja zugestimmt haben, dass sie das machen wollen oder dass sie wollen, dass andere das mit ihnen machen.

A propos Schönheit: Hat der Mensch ein Grundrecht auf Zufall oder hat er ein Grundrecht auf die Korrektur des Imperfekten?

Jeder Mensch hat, wenn er will, ein Grundrecht auf Zufälligkeit. Aber wenn er es nicht will, hat er auch ein Grundrecht auf Korrektur. Das wird ja wohl keiner bestreiten. Die Frage ist eher: Darf man andere korrigieren? Zum Beispiel seine Kinder?

… und: Darf man?

Man darf - und zwar dann, wenn man davon überzeugt sein kann, dass es im Interesse des Wohles des Kindes geschieht. Wenn jemand eine Erbkrankheit hat und die nicht weitergeben will, dann darf man an den Keimzellen etwas verändern. Da sehe ich nicht, dass einer sagen kann, das verstößt gegen die Würde des Menschen. Es verstößt nicht gegen meine Würde und es verstößt auch nicht gegen die Würde des Kindes, ihm die "Chance" zu nehmen, mit einer schweren Erbkrankheit zur Welt zu kommen.

Was halten Sie von Gentherapie, Embryonenforschung, therapeutischem Klonen?

Bei der Gentherapie gibt es meines Erachtens nach überhaupt keinen Grund, nicht in die Keimbahn einzugreifen, um – zum Beispiel – eine Erbkrankheit zu korrigieren. Was soll denn dagegen sprechen? Dass vielleicht irgendjemand sagt: "Mein Kind hat einen Anspruch darauf, dem Zufall ausgesetzt zu sein, die Krankheit zu erben?!" Ich sehe nicht, wie man einen solchen Anspruch eines Kindes begründen sollte.

Bei der Embryonenforschung kommt es darauf an, ob wir den Embryo als einen Menschen ansehen. Oder ob wir ihn als etwas ansehen, das man höheren Zwecken des menschlichen Lebens "aufopfern" kann – zum Beispiel, um Stammzellen zu entwickeln, mit denen andere Menschen geheilt werden könnten.

Wie sieht man das in Deutschland generell?

Da tobt der Kampf. Die einen sagen: Der Embryo ist ein Mensch und hat vollen Anspruch auf Schutz der Menschenwürde. Die anderen sagen: Der Embryo ist lediglich die Vorstufe einer menschlichen Person. Typischerweise wird in diesem Zusammenhang immer die jüdische Religion zitiert. Die sagt, dass bis 40 Tage nach der Empfängnis da nichts ist, was zählt. Auch nach der alten katholischen Lehre, die Jahrhunderte lang galt, zählt ein Embryo bis zur Beseelung moralisch überhaupt nicht.

Ich stehe ebenfalls auf dem Standpunkt, dass der Embryo kein Mensch im vollen Sinne ist, sondern nur eine Stufe der Entwicklung menschlichen Lebens. Der Embryo kann – und soll – den Freiheitsrechten anderer unter Umständen nachgeben. Ich glaube, dass es richtig ist, dass große Teile der Gesellschaft den Embryo so werten. Wir bewerten ihn aber deshalb nicht als moralisch irrelevant!

Was die Forschung anbelangt: Man kann nicht hinter das zurück, was man weiß – aber muss man immer alles wissen?

Nö, muss man nicht, aber wenn wir uns entscheiden, etwas nicht zu wissen, dann erzeugen andere das Wissen. Wissen ist nicht kontrollierbar. Man muss natürlich nicht alles machen, aber wer ist denn "man"?! Ist das die deutsche Gesellschaft? Der Einzelne? Der Einzelne muss überhaupt nicht. Eine ganz andere Frage ist, ob man als Gesellschaft den Einzelnen zwingen darf, etwas nicht zu machen.

Gibt es einen Rechtsanspruch auf Einhaltung bestimmter Normen und Werte? Was soll man machen mit Ergebnissen aus Forschungszweigen, die bei uns untersagt sind? Lesen Sie weiter auf Seite 2.

Wolfgang van den Daele: Dafür, als Gesellschaft die Bremse zu ziehen, braucht man gute Gründe. Zum Beispiel: Etwas verletzt die Rechte anderer Menschen. Man darf keine Forschung machen, wo Leute gequält werden, um Erkenntnisse zu erzielen. Ein anderer Grund wäre: Die gesellschaftlichen Folgen sind verheerend. Da haben wir eine Begründungspflicht und eine ziemliche Beweislast. Es reicht nicht, "verheerende Folgen" nur zu behaupten.

Wir können uns nicht abschotten vor dem Wissen. Sobald die Wissenschaft die Möglichkeit geschaffen hat, ein bestimmtes Leiden zu korrigieren, verlangen die Menschen danach. Das ist menschlich. Aber ich bezweifle, dass wir in Bezug auf Bioethik über moralische Normen verfügen, die überall auf der Welt geteilt werden. Wir haben zwar die Menschenrechte, aber zu Beispiel dafür, wie man mit Embryonen umgehen darf, gibt es keine globale Moral.

Gibt es einen Rechtsanspruch auf Einhaltung bestimmter Normen? Oder darauf, dass sich die Gesellschaft an bestimmten Werten orientiert?

Nein, es gibt nur die Verfassung. Und die Rechtsansprüche, die sich aus internationalen Verträgen oder nationalen Gesetzen ableiten lassen. Moralische Ansprüche ergeben sich aus universellen moralischen Prinzipien, und es gibt moralische Ansprüche aus lokalen Gemeinschaftswerten – so etwas wie eine "lokale Ethik". Das heißt: Einzelne Gesellschaften haben unterschiedliche Standards. Und auch einzelne Gruppen in den Gesellschaften haben unterschiedliche Standards. Es gibt zwar ein für alle geltendes Gesetz, aber es gibt keine für alle geltende Ethik.

Aber es gibt Forschungsinseln in Regionen und Kulturkreisen, in denen andere Normen gelten als in Mitteleuropa. Die verschieben die Grenzen des Machbaren immer weiter nach hinten …

Genau. Wir in Deutschland können natürlich nicht sagen: Ihr seid unmoralisch, ihr verstoßt gegen die Würde des Menschen. Wir können nur sagen: Bei uns machen wir so was nicht. Das ist ja das Interessante mit der Stammzellenforschung. Die findet bei uns praktisch nicht statt. Aber woanders wird das gemacht, das heißt: Die Ergebnisse der Stammzellforschung sind verfügbar. Und - sollen wir die Ergebnisse verwenden? Natürlich werden wir das tun! Wenn es Medikamente gibt, werden wir sie importieren, wenn es Transplantationsmöglichkeiten gibt, werden wir sie anwenden.

Wie kommt man denn dann der Informationspflicht nach? Man muss doch den Menschen sagen, unter welchen Bedingungen diese zustande kamen.

… na ja, das weiß ich nicht. Muss man das sagen? Sie meinen, die Menschen wollen das nicht, wenn sie wissen, dass das mit Embryonen erzeugt worden ist?

Zum Beispiel …

… das glaube ich eigentlich nicht. Aber es könnte natürlich sein. Bisher gibt es jedenfalls nur eine Kennzeichnungspflicht für alles, was mit Gentechnik gemacht worden ist. Aber ob etwas zum Beispiel mit klinischen Versuchen oder Experimenten an Menschen getestet worden ist, das muss nicht beschrieben werden.

Da gibt es eine internationale Einigung, dass das nicht interessant ist als Information. Jetzt könnten zwar nationale Parlamente eine Informationspflicht einführen, aber so etwas kenne ich nicht. Es könnte zwar sein, dass es Leute gibt, die das gerne hätten, aber die haben im Moment schlechte Karten. Ich sehe nicht, dass es dafür irgendwo eine Mehrheit gibt. Oder irgendein Parlament, das das einführt.

Das Gespräch führte Ingun Arnold

Prof. Dr. Wolfgang van den DaeleBild: WZ Berlin

Professor Dr. Wolfgang van den Daele ist Direktor der Abteilung "Zivilgesellschaft und transnationale Netzwerke" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und derzeit Mitglied des Nationalen Ethikrates der Bundesrepublik Deutschland.

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