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Wird Keir Starmer Großbritannien näher an die EU führen?

Anchal Vohra
5. Juli 2024

Labour-Chef Keir Starmer wird neuer britischer Premierminister. Er war gegen den Brexit, thematisierte den Austritt aus der EU im Wahlkampf aber kaum. Wird er das Verhältnis zur EU wiederbeleben?

Großbritannien Parlamentswahlen 2024: Labour-Politiker und Wahlsieger Keir Starmer steht vor einem Rednerpult mit einem Banner, das die Aufschrift trägt "Change begins"
Strahlender Sieger Keir Starmer: Wieviel Wandel kann der Labour-Politiker bewirken?Bild: JUSTIN TALLIS/AFP/Getty Images

Die Labour-Partei hat die Wahl in Großbritannien mit großem Vorsprung gewonnen und sichert sich die absolute Mehrheit im Unterhaus. Mit ihrem Parteichef Keir Starmer wird nach 14 Jahre erstmals wieder ein Sozialdemokrat als Premierminister regieren.

Die konservativen Tories haben das Vereinigte Königreich während ihrer Regierungszeit grundlegend verändert: Sie führten das Land aus der Europäischen Union. Das Verhältnis zu dem Staatenblock ist seitdem angespannt. Labour-Politiker Starmer war gegen das Brexit-Referendum im Jahr 2016. Während des gesamten Wahlkampfs äußerte er sich jedoch auffällig wenig zu dem Thema. Zuletzt schloss der 61-jährige Starmer die Rückkehr in die Zollunion und den Binnenmarkt aus.

"Es gibt viele Dinge, die er nicht erwähnt hat, die angegangen werden müssen", sagt Dimitri Zenghelis, Wirtschaftswissenschaftler und Brexit-Experte an der London School of Economics, zur DW. Für Starmer werde es "sehr viel schwieriger" die Wirtschaft anzukurbeln, wenn das Vereinigte Königreich weiter nicht Teil der Europäischen Union und deren Binnenmarkts ist, fügte er hinzu.

Bogen um das Thema Brexit

Der verbreitete Eindruck ist: Starmer hat die Brexit-Folgen im Wahlkampf nicht thematisiert, um Stimmen der Konservativen zu gewinnen, die wegen der zahlreichen Krisen mit den regierenden Tories unzufrieden sind. Ganz oben auf der Problem-Liste stehen lange Wartezeiten für Untersuchungen beim Arzt und hohe Lebenshaltungskosten.

Starmer lag in den Umfragen vorne und habe daher kein Thema ansprechen wollen, das ihm schaden könnte, meint Mike Galsworthy, Vorsitzender der Interessensgruppe European Movement UK, im Gespräch mit der DW. Die Interessensgruppe setzt sich für bessere Beziehungen zur EU ein. Galsworthy glaubt jedoch, der Druck von Unternehmen, Wirtschaftswissenschaftlern und denjenigen, die 2016 gegen den Austritt aus der EU gestimmt haben, könnten Starmer letztlich dazu bewegen, das Thema anzugehen.

"Labour mag rote Linien gezogen haben", sagte Galsworthy bezogen auf die ausdrückliche Ablehnung, wieder dem Binnenmarkt beizutreten. "Aber verschiedene Gruppen werden auf diese Linien Druck ausüben, da die Menschen Antworten und einen höheren Lebensstandard fordern."

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Die Kosten des EU-Austritts

Viele sind der Meinung, dass Großbritannien seine Beziehungen zur EU zwingend neu ausrichten muss, um die britische Wirtschaft anzukurbeln. Die Schätzungen, wie groß der Schaden ist, den der Brexit verursacht hat, gehen allerdings weit auseinander.

Unbestritten ist, dass der bürokratische Aufwand und die Kosten für britische Unternehmen gestiegen sind. Außerdem ging der Handel zwischen dem Vereinigten Königreich und seinem größten Handelspartner zurück.

Diverse Zahlen belegen das. Nach Angaben des britischen Nationalinstituts für Wirtschafts- und Sozialforschung ist die britische Wirtschaft seit dem Brexit um zwei bis drei Prozent geschrumpft. Bis 2035 soll der Wert sogar auf fünf bis sechs Prozent steigen.

Genug ist genug: Im vergangenen Jahr kam es wegen der Wirtschaftskrise in Großbritannien zu Massenstreiks im öffentlichen DienstBild: Jordan Pettitt/AP Photo/picture alliance

Wirtschaft will zurück in EU-Binnenmarkt 

Eine Studie des unabhängigen Wirtschaftsinstituts Cambridge Econometrics kommt zu dem Ergebnis, dass die Investitionen im Vereinigten Königreich durch den Brexit bis 2035 um ein Drittel zurückgehen werden, was zu drei Millionen weniger Arbeitsplätzen führen wird.

Diese Studie hatte Londons BürgermeisterSadiq Khan, ebenfalls bei der Labour-Partei, in Auftrag gegeben. Nach Angaben der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Menzies will jedes fünfte britische Unternehmen, dass die neue Regierung zum Binnenmarkt zurückkehrt.

Nach Angaben der britischen Handelskammer empfanden zwei Drittel der britischen Unternehmen, die im vergangenen Jahr mit der EU Handel trieben, die Verfahren als umständlich. Die Handelskammer ist ein Zusammenschluss und Interessensvertretung britischer Unternehmen.

Fast die Hälfte der von der Kammer befragten Unternehmen war nicht der Meinung, dass der Brexit ihr Wachstum gefördert hat. Im Gegenteil: 41 Prozent gaben an, dass der Brexit den Kauf und Verkauf von Waren in der EU erschwert hat.

"Der Austritt aus der EU hat es teurer und bürokratischer gemacht, unsere Waren und Dienstleistungen über den Kanal zu verkaufen", sagte Shevaun Haviland, Generaldirektorin der britischen Handelskammer auf deren Jahreskonferenz. "Wir müssen anfangen, die Dinge beim Namen zu nennen."

Was will Starmer, was kann er bekommen?

Anand Menon, Professor für europäische Politik am King's College London und Direktor der Denkfabrik UK in a Changing Europe erwartet dennoch "keine große Überarbeitung" der bestehenden Beziehungen. "Starmer will sehr wenig", erklärt er.

Klar ist: Die Labour-Partei möchte das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich verbessern. Dieses wurde Ende 2020 vom damaligen Premierminister Boris Johnson unterzeichnet.

Zwei angestrebte Änderungen sind unumstritten: ein Veterinärabkommen, das den bürokratischen Aufwand und die Grenzkontrollen für tierische Erzeugnisse verringern soll, sowie die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen.

Gemeinsame Beschaffung von Waffen?

Beim Thema Verteidigung ist es nicht so einfach. Das Manifest der Labour-Partei fordert jedoch auch einen neuen Verteidigungspakt zwischen Großbritannien und der EU mit Blick auf die kollektive Sicherheit, aber auch auf den Europäischen Verteidigungsfonds.

In einem kürzlich veröffentlichten Papier des Tony Blair Institute for Global Change heißt es, ein umfassendes Abkommen auf diesem Gebiet könnte "die volle Teilnahme an EU-Initiativen zur Beschaffung von Verteidigungsgütern wie dem Europäischen Verteidigungsfonds" ermöglichen.

Nicht jeder glaubt, dass Brüssel zustimmen wird. "Was die wirtschaftliche Seite der Verteidigung angeht", so Menon vom King's College, "bin ich mir nicht sicher, ob die EU mitspielen wird."

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EU will keinen Präzedenzfall schaffen

Regelungsbedarf gibt es auch beim Thema Reisefreiheit. Die Tory-Regierung hatte versucht, mit ausgewählten europäischen Ländern Abkommen zur Mobilität junger Menschen zu unterzeichnen.

Im April dieses Jahres protestierte die EU-Kommission gegen die unterschiedliche Behandlung von Europäern. Sie bot ihre eigene Version eines Programms an, das jungen Menschen mehr Freiheiten zum Reisen, Arbeiten und Studieren zwischen der EU und Großbritannien ermöglich hätte.

Die konservative Regierung von Premierminister Rishi Sunak lehnte den Vorschlag damals ab, die Labour-Partei widersprach nicht. Londons Bürgermeister Khan hatte vor der Wahl erklärt, er werde sich für Förderung der Jugendmobilität einsetzen.

Starmer sagte, er werde sich ansehen, wie Musiker und Künstler aus Großbritannien ohne Visum in die EU reisen können. Bei großen Fragen jedoch scheint die EU nicht bereit, wesentliche Zugeständnisse zu machen.

"Das Vereinigte Königreich kann nicht in den Genuss der Vorteile des Binnenmarktes kommen, wenn es nicht dabei ist", so ein Branchenkenner der Industrie in Europa zur DW. "Das kann einen schlechten Präzedenzfall schaffen, und das können wir uns in einem Block von 27 Ländern nicht leisten."

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

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