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Politik

Wirecard: "Scholz tatenlos, Merkel naiv"

7. Juni 2021

Auf 678 Seiten ziehen die Oppositionsparteien im Wirecard-Untersuchungsausschuss nach Monaten ein erstes Fazit. Den Aufsichtsbehörden und Finanzminister Olaf Scholz werfen sie Versagen vor. Aus Berlin Sabine Kinkartz.

Bundestag | Haushaltsdebatte | Finanzminister Olaf Scholz mit Kanzlerin Merkel
Bild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

Es war ein schwarzer Montag für Olaf Scholz. Bis zur Bundestagswahl im September, bei der der Bundesfinanzminister für die SPD als Kanzlerkandidat antritt, sind es nur noch vier Monate. Wahlergebnisse wie die vom Sonntag im Bundesland Sachsen-Anhalt, wo sich die Sozialdemokraten auf ein einstelliges Wahlergebnis verzwergt haben, sind für die SPD ein politisches Desaster.

Doch für Scholz kam es an diesem Montag noch dicker. Die FDP, die Grünen und die Linkspartei legten ihr Abschlussvotum zum Wirecard-Untersuchungsausschuss im Bundestag vor. Darin attestieren die drei Initiatoren des Ausschusses dem Bundesfinanzminister und dem Bundeswirtschaftsminister schwere Versäumnisse: "Die politische Verantwortung für das kollektive Aufsichtsversagen tragen vor allem Olaf Scholz und Peter Altmaier", fasst es die grüne Bundestagsabgeordnete Lisa Paus zusammen.

Milliardenschwere Luftbuchungen

Der frühere Dax-Konzern Wirecard war im Juni 2020 in die Pleite gerutscht, nachdem in der Bilanz 1,9 Milliarden Euro fehlten und sich herausstellte, dass das Geld nie existiert hatte. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Bilanzfälschung, Betruges, Marktmanipulation und Geldwäsche. 20 Milliarden Euro Börsenwert lösten sich in Luft auf, zahlreiche Kleinanleger verloren ihre Einlagen.

Bundesfinanzminister Olaf Scholz wurde Ende April im Untersuchungsausschuss vernommenBild: MICHELE TANTUSSI/AFP via Getty Images

Für Peter Altmaier ist das Fazit der Oppositionsparteien unschön, doch der CDU-Politiker strebt nach der Bundestagswahl absehbar keine weitere Karriere an. Bei Olaf Scholz sieht das anders aus. "Wenn man sich als Kanzlerkandidat bewirbt, sollte man den Beweis angetreten haben, dass man in seinem eigenen Bereich aufgeräumt hat", urteilt der linke Bundestagsabgeordnete Fabio De Masi. "Politische Führung heißt, Verantwortung zu übernehmen."

Anfang 2019 hätte Schluss sein können

In ihrem 678 Seiten umfassenden Abschlussbericht werfen FDP, Grüne und Linkspartei Scholz vor, nicht richtig hingesehen zu haben und auf frühzeitige Warnungen nicht reagiert zu haben. "Das war kein kleiner Behördenfehler auf der dritten Verwaltungsebene", so der FDP-Bundestagsabgeordnete Florian Toncar. 

"Der Betrug bei Wirecard wurde zwar mit großem Aufwand organisiert, aber keinesfalls perfekt und ohne Schwächen. Sowohl die Finanzaufsicht BaFin, als auch die Geldwäschebehörde FIU und die Staatsanwaltschaft hätten dem kriminellen Treiben schon Anfang 2019 ein Ende bereiten und den Schaden erheblich begrenzen können und müssen", so Toncar.

Gründe gesucht, um wegzusehen

So wandte sich im Februar 2019 die Commerzbank mit einer Geldwäsche-Warnung an die FIU. Toncar spricht von einem "Volltreffer", der der FIU auf einem "Silbertablett" serviert worden sei. Passiert sei aber nichts. "Es wäre geradezu zwingend gewesen, dass die Behörden hier früher eingestiegen wären", so Toncar. "Statt nach Möglichkeiten zu suchen, um aufsichtsrechtlich tätig zu werden, suchte man nach Gründen, um nicht tätig zu werden", ergänzt die grüne Bundestagsabgeordnete Lisa Paus.

Der Wirecard-Untersuchungsausschuss hat seine Arbeit im Oktober 2020 aufgenommen. Seitdem wurden über 100 Zeugen vernommen, die Abgeordneten sichteten fast 400.000 Seiten Aktenmaterial und mehr als 400 GB Daten. Der Wirecard-Skandal sei viel mehr als ein Bilanzskandal, heißt es in dem Abschlussvotum der drei Oppositionsfraktionen. Es sei der größte Börsen- und Finanzskandal der Nachkriegszeit. Möglich geworden durch kollektives Aufsichtsversagen, aber auch, weil der Wunsch nach einem globalen Technologieunternehmen in Deutschland auch in der Politik so groß gewesen sei.

"Naive" Kanzlerin

Bundeskanzlerin Angela Merkel attestieren die Oppositionsparteien in ihrem Bericht "Naivität". Sie habe sich für die Interessen von Wirecard einspannen lassen und nicht durchschaut, dass es Wirecard, "mit einer ganzen Heerschaar an ehemaligen CDU/CSU-Politikern als Lobbyisten ausgestattet" geschafft habe, "das Bild des innovativen Tech-Unternehmens bis ins Kanzleramt zu verbreiten, und Wirecard zum nationalen Champion im Rahmen des deutsch-chinesischen Finanzdialogs aufzuwerten".

Lobbyierte bei der Kanzlerin für Wirecard: Ex-Minister Karl Theodor zu GuttenbergBild: imago/J. Heinrich

Die Arbeit des Untersuchungsausschusses habe auch gezeigt, dass deutsche Aufsichtsbehörden gar nicht in der Lage seien, digitale Geschäftsmodelle angemessen zu bewerten, so die Grüne Lisa Paus. Es fehle an Fachwissen und Analysekompetenz. Warnhinweise aus dem Ausland zu Wirecard seien allesamt versickert. Die Finanzaufsicht habe zudem eine tiefsitzende Skepsis gegenüber angelsächsischen Medien und Investoren an den Tag gelegt. Berichte in der Financial Times über Unregelmäßigkeiten bei Wirecard wurden so interpretiert, dass der Konzern Opfer der Medien sei.

Ein Ungenügend für EY

Schlecht weg kommen in dem Bericht auch die Wirtschaftsprüfer. Viele Jahre untersuchte Ernst & Young (EY) die Jahresabschlüsse von Wirecard. Dabei habe es an der "kritischen Grundhaltung" gemangelt, die auch nicht zu erkennen gewesen sei, als die Unregelmäßigkeiten und Alarmzeichen bei Wirecard jedes Jahr größer wurden.

"2019 waren die Hinweise auf Unregelmäßigkeiten dann so bedeutend, dass man das Testat durch EY nur damit erklären kann, dass eine Verweigerung des Testats für den Konzernabschluss 2018 auch das eigene Scheitern in den Vorjahren offensichtlich gemacht hätte", schreiben FDP, Grüne und Linkspartei in ihrem Abschlussbericht.

In zwei Wochen endet die Ausschussarbeit

In den nächsten Tagen wollen nun auch die Regierungsfraktionen von CDU/CSU und SPD und die AfD ihre Abschlussvoten vorlegen. Während zu erwarten ist, dass die AfD ebenfalls die politische Verantwortung bei der Regierung feststellt, ist das von den Regierungsparteien nicht zu erwarten. "Es gibt ein Waffenstillstandsabkommen in der Koalition, dass man die politische Verantwortung nicht benennt", sagt der linke Bundestagsabgeordnete Fabio De Masi. Das sei der wesentliche Grund für das Sondervotum der drei Oppositionsparteien gewesen.

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