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Wladimir Kaminer: "Entscheidend ist das Wir"

Wladimir Kaminer
7. Oktober 2020

Der gebürtige Russe lebt seit 30 Jahren in Deutschland. Für die DW hat der Autor der "Russendisko" über die Wiedervereinigung und ihre Folgen nachgedacht.

Schriftschteller Wladimir Kaminer im Interview mit Zhanna Nemtsova
Wladimir KaminerBild: DW

Die wichtigsten Säulen einer Gesellschaft, die Solidarität, der Zusammenhalt, die Offenheit eines Landes der übrigen Welt gegenüber, hängen vom Selbstbewusstsein des Volkes ab. Und die deutsche Wiedervereinigung hat das Selbstbewusstsein der Deutschen enorm gesteigert. Aus heutiger Sicht gleicht der friedliche Protest der DDR-Bürger gegen das SED-Regime einem Wunder. Könnte es sein, dass ein klares Nein mehr politisches Gewicht hat als Panzer, Soldaten und Geheimpolizei? Die Frage bleibt ungeklärt.

Protest der DDR-Bürger als Vorbild für Belarussen

Gegen die Ansicht des Kremls

03:01

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Heute wollen es die Belarussen wissen. Seit über acht Wochen gehen sie auf die Straße und demonstrieren gegen das Regime des Diktators Alexander Lukaschenko. Sie werden geschlagen, gefoltert, eingesperrt. Es sind nur wenige Tausend Menschen, die dem Regime mit dem Knüppel in der Hand dienen, Hunderttausende Demonstranten stehen ihnen gegenüber. Im Fall einer blutigen Auseinandersetzung wäre der Sieg dem aufständischen Volk sicher. Und trotzdem bleibt der Protest friedlich. Woche für Woche, Tag für Tag äußern die Menschen laut ihren Unmut über den Diktator. Auf die zehn Millionen Belarussen schauen 100 Millionen Russen mit Neugier und Angst. Ist friedlicher Protest möglich, hatte er jemals Erfolg? Gab es in der ganzen Menschheitsgeschichte einen Präzedenzfall, bei dem sich ein Volk ohne Blutvergießen befreien konnte, aus dem Joch der Tyrannei? Natürlich gab es einen solchen Fall, sagen meine Freunde in Sachsen stolz. Das ist die friedliche Revolution in der DDR.

Friedliche Proteste in Minsk gegen Machthaber LukaschenkoBild: dpa/picture-alliance

"So lange auf die Straße, bis die Mauer fiel"

Die Bürgerinnen und Bürger sind damals so lange auf die Straße gegangen, bis die Mauer fiel und Deutschland sich wiedervereinigte. Aber Moment mal, sage ich meinen sächsischen Freunden, der Vergleich ist nicht ganz korrekt.

Erstens war es nur ein halbes Volk, das befreit werden sollte, die andere Hälfte befand sich bereits im kapitalistischen Paradies. Außerdem war damals der große Bruder, die Sowjetunion nicht eingeschritten, wie er das vorher in Tschechien und in Ungarn bereits getan hatte. Wahrscheinlich war Gorbatschow dermaßen von Ronald Reagan und Helmut Kohl verblendet, er wollte unbedingt mit diesen tollen Menschen an einem Tisch sitzen oder träumte insgeheim davon, mit deren Hilfe auch das dickste Kamel, die Sowjetunion, irgendwann durch das Nadelöhr der Wiedervereinigung ins kapitalistische Paradies zu ziehen. Außerdem, sage ich meinen sächsischen Freunden, lief die Befreiung nicht ganz glatt.

Großdemonstration in Ostberlin am 4. November 1989 Bild: picture-alliance/ZB/P. Zimmermann

Lust und Frust im kapitalistischen Paradies

Viele der Befreiten waren gleich nach der Wiedervereinigung ziemlich enttäuscht. Die anstrengende Arbeitssuche im kapitalistischen Paradies bei ständig steigenden Mietpreisen brachte viele an den Rand der Verzweiflung. Und doch sind die Deutschen durch ihren Wiedervereinigungserfolg unglaublich selbstbewusst geworden. Wegen jeder Kleinigkeit gehen sie sofort auf die Straße. Sie wissen, sie können alles schaffen, nicht umsonst sagte die Bundeskanzlerin angesichts der großen Flüchtlingskrise: "Wir schaffen das".

Zusammenhalt in der Corona-Pandemie

Entscheidend ist das Wir. Auch jetzt während der Corona-Pandemie wird ständig darüber gesprochen, dass all die Vorbeugungsmaßnahmen und die Warn-App nur dann einen Sinn ergeben, wenn sich alle, aber wirklich alle, an die Regeln halten. Jedes historische Ereignis, sei es die Niederlage in den Weltkriegen, die Wiedervereinigung oder die Gründung der Europäischen Union, diente hierzulande der Stärkung des kollektiven Selbstbewusstseins. Ermutigt setzt sich das Volk immer höhere Ziele, bis es irgendwann mal über das eigene Selbstbewusstsein stolpert und von der Leiter fliegt. Es bleibt aber niemals liegen, steht sofort auf und fängt wieder von vorne an.

Wladimir Kaminer (geboren 1967) wanderte 1990 aus der damaligen Sowjetunion aus und lebt seitdem in Berlin. Mit viel Witz und Selbstironie schreibt er seit Mitte der 90er Jahre Kurzgeschichten und Romane über seine Erfahrungen als eingewanderter Russe und schaffte es immer wieder auf die Bestsellerlisten. Zu seinen größten Erfolgen gehört der Erzählband "Russendisko", der 2012 auch verfilmt wurde.

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