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PolitikUkraine

Putins Atomdrohung: Wie ernst ist die Lage?

2. März 2022

Präsident Putin hat die russischen Atomstreitkräfte in erhöhte Einsatzbereitschaft versetzt. Einen Atomkrieg halten Beobachter für höchst unwahrscheinlich, aber auf die leichte Schulter nehmen sie den Schritt auch nicht.

USA | Abschuss einer Trident II Rakete über dem Meer
Eine unbewaffnete US-Rakete wird aus einem U-Boot vor San Diego abgefeuert. Sie könnte auch Atomsprengköpfe tragenBild: U.S. Navy/ZUMA/picture alliance

Inmitten der Nachrichten über die Kämpfe in der Ukraine, die Flüchtlinge an den westlichen Grenzen des Landes und die russischen Angriffe auf Kiew gab der russische Präsident Wladimir Putin am Sonntag eine Erklärung ab, die weltweit für Schrecken sorgte: "Ich weise den Verteidigungsminister und den Generalstabschef an, die Abschreckungskräfte der russischen Armee in besondere Kampfbereitschaft zu versetzen", sagte Putin in einem im TV übertragenen Gespräch mit hochrangingen Militärvertretern.

Rätseln um Putins Kriegsstrategie

Die "Abschreckungskräfte", auf die sich der Präsident bezog, schließen auch die Atomstreitkräfte ein - das lässt Sorgen über eine mögliche Eskalation des Krieges gegen die Ukraine aufkommen. Ein hochrangiger Beamter des US-Verteidigungsministeriums sagte in einem Briefing am Sonntag, Putins Hinweis auf Russlands nukleare Fähigkeiten sei "nicht nur ein unnötiger, sondern ein eskalierender Schritt". NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnete die Aussage des russischen Präsidenten als "unverantwortlich" und sagte dem US-Sender CNN, dies sei "gefährliche Rhetorik".

Zu welchen Änderungen in Russlands Kriegsstrategie dies konkret führen könnte, stellt auch Experten vor Rätsel: "Es ist immer noch unklar, was die erhöhte Alarmbereitschaft bedeutet", schrieb Hans Kristensen, Direktor des nuklearen Informationsprojekts bei der Federation of American Scientists, in einer E-Mail an die DW. "Es gibt Spekulationen, dass es sich um eine Erhöhung der Bereitschaft des nuklearen Kommando- und Kontrollsystems handeln könnte, um besser auf die Übermittlung eines Abschussbefehls vorbereitet zu sein. Es gab auch einige Berichte über eine erhöhte Aktivität der Raketen-U-Boote, aber es ist unklar, ob dies über das normale Maß hinausgeht."

Das größte Atomwaffenarsenal der Welt

Verschiedenen Quellen zufolge verfügte Russland im Jahr 2021 über 6257 Atomsprengköpfe. Damit ist es das Land mit dem größten Atomwaffenarsenal der Welt, gefolgt von den Vereinigten Staaten, die 2021 über 5500 Atomsprengköpfe verfügten.

1760 der russischen Sprengköpfe sind "ausrangiert" und warten auf ihre Demontage, so die Arms Control Association, eine unabhängige Organisation mit Sitz in den USA. Damit verfüge Moskau noch über 4497 aktive Atomsprengköpfe. Nicht alle davon sind direkt einsatzbereit, das heißt in einer Position, in der sie innerhalb von Minuten abgefeuert werden könnten, falls die Regierung einen Atomschlag anordnet.

Im September 2021 hatte Russland 1458 Atomsprengköpfe auf Interkontinentalraketen, U-Boot-gestützten ballistischen Raketen und strategischen Bombern stationiert. Dies ist die aktuellste Zahl, die im Rahmen des New START-Abkommens zur Reduzierung von Nuklearwaffen zwischen den USA und Russland zur Verfügung steht. Im Rahmen des Abkommens werden alle sechs Monate aktuelle Daten zu Atomsprengköpfen veröffentlicht.

Alle Atomwaffen Moskaus seien in Russland selbst stationiert, schreibt Kristensen. U-Boote mit Atomsprengköpfen gingen jedoch gelegentlich auf Abschreckungspatrouille in internationalen Gewässern, was "normal ist und auch von westlichen Atommächten so gemacht wird", so der Experte.

Zusammenstöße zwischen NATO und Russland?

Der Kreml erklärte, die erhöhte Alarmbereitschaft der Atomstreitkräfte sei eine Reaktion auf Äußerungen des Westens über mögliche Konfrontationen zwischen russischen Soldaten und NATO-Truppen. "Es gab Äußerungen von verschiedenen Vertretern auf verschiedenen Ebenen über mögliche Auseinandersetzungen oder sogar Zusammenstöße zwischen der NATO und Russland", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Montag in einer Pressekonferenz. "Wir glauben, dass solche Aussagen absolut inakzeptabel sind."

Auf welche Äußerungen sich Peskow bezog, ist unklar. Eine westliche Politikerin, die er direkt erwähnte, war die britische Außenministerin Liz Truss. Doch weder Truss noch andere Vertreter des Westens haben von einem Angriff der NATO auf russische Truppen gesprochen.

US-Vize-Außenminsterin Wendy Sherman und ihr russischer Amtskollege Sergey Ryabkov: Das jährliche Waffen-Kontroll-Gespräch in Genf waren 2021 schwierigBild: /AP Photo/picture alliance

Experten gehen davon aus, dass Putin die Welt daran erinnern will, dass Russland eine Atommacht ist, mit der man sich nicht anlegen sollte. Seine Äußerung kam kurz nachdem die EU und die USA die härtesten Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt hatten, die das Land je gesehen hat. "Putin handelt wahrscheinlich so, um dem Westen Angst einzujagen, damit er ihm Zugeständnisse macht", schreibt Kristensen. "Das ist seine typische waghalsige Politik."

Reaktion auf mangelnden Erfolg?

Der Schritt könnte auch durch den mangelnden militärischen Erfolg bei der bisherigen Invasion der Ukraine motiviert sein, sagt Marc Finaud, Experte für Waffen-Proliferation am Geneva Centre for Security Policy, einer internationalen Stiftung mit Sitz in der Schweiz: "Die militärische Lage in der Ukraine ist nicht so deutlich, wie Putin sich das vorgestellt hat", sagte Finaud der DW. "Das könnte der Grund sein, warum der russische Präsident das Bedürfnis hatte, auf die nukleare Waffenstärke seines Landes hinzuweisen."

Was auch immer der Grund für Putins Worte sein mag - Ben Hodges, ein pensionierter General der US-Armee, der als Kommandant der US-Streitkräfte in Europa diente, sagte, er sei von der eskalierenden Rhetorik Putins nicht überrascht: "Natürlich hat es ihn nichts gekostet, mit dem Einsatz von Atomwaffen zu drohen", sagte Hodges der DW. Ein tatsächlicher nuklearer Angriff sei jedoch eine andere Geschichte. "Wenn sie den furchtbaren Schritt gehen sollten, eine Atomwaffe einzusetzen, egal wie groß oder klein, wird es [Putin] und Russland alles kosten."

Russlands strategische Langstrecken-Atomwaffen könnten jeden Punkt der Erde erreichen, schrieb Kristensen. Aber ein Atomschlag Russlands würde mit ziemlicher Sicherheit einen Gegenschlag der USA oder einer anderen westlichen Atommacht auslösen. Ein darauf folgender Atomkrieg hätte katastrophale Folgen weit über die beteiligten Länder hinaus.

Sprengkraft weit größer als im 2. Weltkrieg

Nach Angaben von Scientists for Global Responsibility (SGR), einer unabhängigen Organisation mit Sitz im Vereinigten Königreich, würde der Einsatz eines einzigen nuklearen Sprengkopfes bei einem Angriff auf eine Stadt ausreichen, um effektive medizinische und humanitäre Hilfe unmöglich zu machen. Die Detonation von einigen Dutzend oder Hunderten von Sprengköpfen, so die SGR, würde zu riesigen Bränden führen, deren "anhaltende, hoch aufsteigende Rauchpartikel das globale Klima beeinflussen und einen weit verbreiteten Zusammenbruch der Landwirtschaft sowie eine Hungersnot verursachen würden".

Heutige Nuklearsprengköpfe haben mindestens die fünffache Sprengkraft der Atombombe von HiroshimaBild: picture-alliance/dpa

Moderne Atomwaffen sind wesentlich leistungsfähiger als die beiden Atombomben, die die USA im Zweiten Weltkrieg auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki abwarfen. Diese hatten eine Sprengkraft, die bei etwa 15 beziehungsweise 20 Kilotonnen TNT lag. Laut der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, die 2017 den Friedensnobelpreis erhielt, haben die heutigen Atomwaffen Russlands und der USA eine Sprengkraft von mindestens 100 Kilotonnen TNT.

Vier Fälle, in denen Russland Atomwaffen einsetzen könnte

Dass Putin die russischen Abschreckungskräfte "in einen besonderen Modus des Kampfeinsatzes" versetzte, wird jedoch nicht als letzter Schritt vor einem Atomkrieg angesehen. Die russische Nukleardoktrin, die Putin selbst erst 2020 bestätigt hat, besagt, dass das Land nur in einem von vier Fällen auf Atomwaffen zurückgreifen würde: wenn ballistische Raketen auf Russland oder das Gebiet eines Verbündeten abgefeuert werden, wenn ein Feind Atomwaffen einsetzt, als Reaktion auf einen Angriff auf eine russische Atomwaffenanlage oder als Reaktion auf einen Angriff, der die Existenz des russischen Staates bedroht. Nichts davon ist im Krieg gegen die Ukraine aktuell der Fall.

"Wenn [Putin] wirklich einen Nuklearangriff plante, würden wir wahrscheinlich sehen, dass die mobilen Raketen an Land verlegt und alle U-Boote aufs Meer hinausbeordert würden. Außerdem würden die Kampfflugzeuge aufgerüstet und die nicht-strategischen Nuklearstreitkräfte aktiviert", schrieb Kristensen. "Ein solcher Angriff ist höchst unwahrscheinlich, es sei denn, Russland und die NATO befinden sich in einer direkten militärischen Konfrontation, in der Russland unterlegen ist."

Ein nuklearer Angriff auf die Ukraine, ein Land, das nicht Teil des NATO-Bündnisses ist und selbst keine Atomwaffen besitzt, wird von Experten als ebenso unwahrscheinlich angesehen. "Das würde überhaupt keinen Sinn machen", betonte Finaud. "Wenn es das Ziel ist, die Ukraine einzunehmen, will Russland nicht einen Haufen radioaktiver Trümmer besetzen."

Wo wird Putin aufhören?

Auch die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht bezeichnete Putins Aussage am Montag im Deutschlandfunk als Drohgebärde: "Aber nichtsdestotrotz: Wir haben erlebt, wie unberechenbar Putin ist, und deswegen müssen wir jetzt sehr wachsam sein."

Proliferations-Experte Finaud zeigte sich erfreut darüber, dass die USA im Gegenzug nicht ebenfalls die Alarmbereitschaft erhöht haben. Eine solche "recht moderate" Reaktion demonstriere, wie man eine weitere Eskalation verhindern könne. Gleichzeitig warnt Finaud davor, den Einsatz von Atomwaffen als reine Drohung abzutun, die Putin niemals umsetzen würde: "Wir haben gesehen, wie Putin innerhalb weniger Tage eine Reihe von roten Linien überschritten hat. Jedes Mal dachten wir, er würde nicht weiter gehen, weil das den nationalen Interessen Russlands entgegenlaufen würde. Aber jedes Mal ging er noch weiter."

Carla Bleiker Redakteurin, Channel Managerin und Reporterin mit Blick auf Wissenschaft und US-Politik.@cbleiker