Wo bleibt der Zeitgeist in Venedig?
2. Juni 2013 Holz, überall Holz. Nicht nur im deutschen Pavillon, wo Ai Weiwei hunderte antike Hocker aus der Qing-Dynastie zu einer fragilen Grossskulptur aufeinanderschichtet. Die Belgierin Berlinde De Bruyckere arrangiert Baumwurzeln und Astwerk zu einem verstörenden Körperwesen. Das Totholz ist übrigens ein Imitat aus Wachs.
Bei den Letten schwingt ein kahler Baum als riesiges Pendel durch den Raum, und Mark Manders möbliert den niederländischen Pavillon mit robusten Holzobjekten. Materialisiert sich der Zeitgeist jetzt also in Holz, als ökologische Metapher und sinnlich-erdverbundene Antwort auf die Zumutungen der virtuellen Welt?
Wunderkammer Biennale
Während die Besucher von Länderpavillon zu Länderpavillon schlendern und über die Frage nach dem nächsten Kunsttrend grübeln, weht ein nasser Nordostwind durch die Gassen der für die Jahreszeit viel zu kühlen Serenissima. "Acqua alta", das berüchtigte Hochwasser, sucht die Lagune sonst doch nur im Winter heim. Regenschirm! Schal! Gummistiefel! Die sommerlich gestimmte Kunstwelt registriert entnervt den venezianischen Klimawandel.
Ansonsten macht er sich rar auf dieser Biennale, der Zeitgeist. Selbst Massimiliano Gioni, der Künstlerische Direktor, will von ihm nichts wissen. Er interessiert sich stattdessen für die Tradition der Wunderkammern des 18. Jahrhunderts. Das lässt viel Raum für Entdeckungen. Statt die "Must have"-Listen des Kunstzirkus´ abzuarbeiten, präsentiert Gionis Schau unter dem Titel "Der Enzyklopädische Palast" geniale Einzelgänger, die oft obsessiv ihre Bilderwelten erschaffen.
Geniale Einzelgänger
So wie Yüksel Arslan, der in tausenden von Papierarbeiten sein eigenes Erleben mit der türkischen Geschichte verwebt - ein Lebenswerk. Oder der polnische Künstler Pawel Althamer, der in einer Arbeit für die Biennale die Gesichter realer Venezianer in einem geisterhaften Skulpturenpark verewigt. Die Besucher irren durch diese surreale Welt und scheinen für einen Moment mit der Geschichte Venedigs zu verschmelzen.
Das ist Kunst, die neugierig macht. Zur Zeitgeist-Diagnose taugt sie nicht. Die Aktualitätsmüdigkeit ist greifbar auf der Biennale. Genug getwittert, gepostet, gemailt, geliked. Kümmern wir uns mal wieder um unser Leben, unsere Ideen, unsere Sehnsüchte. Stoppen wir die Bilderflut, die unaufhörlich auf uns einprasselt und sortieren unsere eigenen Bilder.
Die Kunst der Langsamkeit
Dass die Biennale nur wenige interessante Kommentare zu globalen Krisen liefert, zu Armut, Migration und Krieg, scheint in diesem Licht konsequent. Hat die Kunst kapituliert? Man kann es anders sehen. Kunst darf alles, sie darf sich auch verweigern: dem digitalen Imperativ, der alles in Echtzeit kommentiert sehen will. "Wer nur die Gegenwart kennt, muss verblöden", ätzte der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger gegen die Fixierung auf den Zeitgeist. Diese Biennale drückt einfach mal die Stopptaste.