Archäologie im KZ
13. Januar 2018DW: Herr Professor Bernbeck, was war Ihre Motivation, solch ein Buch zu schreiben?
Bernbeck: Der Entschluss, ein Buch zu schreiben, wird von vielen unterschiedlichen Faktoren getrieben. Ich habe zum Beispiel lange in den USA unterrichtet, und dort wird Archäologie als Teil der allgemeinen Anthropologie verstanden, also der Wissenschaft vom Menschen. Kollegen und Kolleginnen in den USA graben seit vielen Jahren an den Orten der Sklaverei aus dem 18. oder 19. Jahrhundert, an Orten der Bergarbeiterstreiks in der Zeit des Ersten Weltkriegs und an vielen anderen Plätzen, für deren Geschichte es kaum schriftliche Dokumente gibt.
Warum haben Sie das Tempelhofer Feld für die Erforschung gewählt?
Das Tempelhofer Feld lag im 19. Jahrhundert noch am Südrand Berlins und wurde ein Stadtteil, als die Bebauung vor allem von Kasernen am Rand des Exerzierfeldes dichter wurde. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurde auch ein Militärgefängnis am späteren Columbiadamm gebaut. Die Nationalsozialisten nutzten es zunächst als wildes Gestapo-Gefängnis und ab 1934 als von der SS geführtes sogenanntes 'KZ Columbia'. 1936 wurde das KZ geschlossen, nachdem dort geschätzt 8.000 Menschen in Haft genommen und gefoltert worden waren.
Man brauchte den Platz für das megalomane Projekt des NS-Flughafens Tempelhof. Dieser Flughafen war bis Anfang des Zweiten Weltkriegs nicht fertig gebaut, wurde auch nicht in regulären Betrieb genommen, sondern sofort in eine Rüstungsfabrik verwandelt, in der Sturzkampfbomber des Typs JU 87 gebaut wurden. Dafür wurden Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen vor allem aus Osteuropa herangezogen, die bekanntermaßen in Baracken gesondert von der sogenannten Volksgemeinschaft leben mussten. Die Zustände in den Lagern waren haarsträubend, wie aus einigen wenigen Augenzeugenberichten hervorgeht. Im Winter 1943 bis 1944 brannten die meisten Baracken nach Luftangriffen der Alliierten ab, die Flugzeugproduktion lief jedoch bis fast zum Kriegsende weiter.
Ausgrabungen wurden am KZ Columbia und in drei Zwangsarbeitslagern durchgeführt, wobei aber immer nur ein kleiner Ausschnitt der Gesamtfläche der Lager freigelegt werden konnte.
Sie schreiben, dass Archäologie, wie Sie sie betreiben, sich für die "Schreie der Opfer interessiert, die an den Orten vergangener Verbrechen nicht verhallen wollen". Was genau wollen Sie damit ausdrücken?
Meine Einstellung zur Archäologie allgemein hat sich durch Ausgrabungen an Orten von Nazi-Opfern sehr stark verändert. Wenn ich ein KZ ausgrabe oder ein Zwangsarbeitslager, bin ich während der Dauer der Grabung mit dem Nachdenken über die Leute befasst, die vor nicht allzu langer Zeit dort gelitten haben. Manche kennen wir mit Namen und genauerem Schicksal, andere sind uns nur durch Knöpfe ihrer Kleidung, durch verrostete Emaille-Becher und andere materielle Dinge zugänglich. Wer waren diese Menschen und wie lebten sie hier? Wie kamen sie miteinander aus? Wer überlebte den Nazi-Terror, und wie überlebten die Leute diese existenzielle Heimsuchung? Welche Misshandlungen gab es? Ausgraben ist also nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine sinnliche Tätigkeit, die starke Aufmerksamkeit erfordert und uns die Dinge viel näher vor Augen führt, als wir das sonst gewohnt sind.
"Gegenstände legen deutlich Zeugnis ab", sagen Sie. Wie ist das zu verstehen?
Gegenstände legen Zeugnis ab, wenn sie als forensische interpretiert werden, als Dinge, die ein Unrecht unwiderleglich sichtbar machen. Die Archäologie hält zum Beispiel normalerweise Funde und Befunde auseinander. Befunde sind Baureste oder feste Installationen. Werden diese in einer Ausgrabung freigelegt, etwa Barackenfundamente, dann sind sie nicht nur interpretierbar, sie sind Zeugen dafür, dass an diesem Ort etwas geschah, was wir vielleicht nur ungefähr rekonstruieren können. Bei Funden ist dieses Bezeugen schwieriger. Diejenigen mit Inschriften, gar mit persönlichen Einritzungen, verweisen uns auf bestimmte Menschen und Situationen.
Die meisten Gebrauchsgegenstände, die wir benutzen, haben eine ganz spezielle Funktion. Manchmal aber ergeben sich ungeahnte Spuren auf solchen Gegenständen. Sie nennen einige Beispiele.
Wir haben einen schwarzen Plastikkamm im Bereich der Zwangsarbeitslager in Tempelhof gefunden, der an einem Ende vom Feuer verschmolzen war, auf dessen Griff man aber noch ein von Hand eingeritztes Datum lesen kann: 19.6.1942. Wir wissen, dass ungefähr in dieser Zeit Zwangsarbeitende aus Osteuropa nach Tempelhof verschleppt wurden, deshalb regt uns solch ein Fund an zu fragen: Wem gehörte dieser Kamm? Was geschah an diesem Junitag im Jahre 1942? Geschah das Einritzen aus Verzweiflung, mit dem Ziel, nicht die im Lager verbrachte Zeit aus den Augen zu verlieren? Oder wurde auf diese Weise vielleicht ein Tag, der sicher nur kleinen Freuden markiert? Daraus wird eigentlich erst Konkreteres, wenn wir über die Beziehung zwischen einzelnem Ding und einzelnem Mensch hinausgehen und komplexere Szenarien vor uns aufziehen lassen. Ich war immer wieder erstaunt, in den Berichten von KZ-Überlebenden Bemerkungen zu finden, dass Gebrauchsgegenstände ganz anders gebraucht wurden als beabsichtigt.
Wie passt diese Fantasie zum wissenschaftlichen Anspruch?
Viele Interpretationen von Gegenständen, die in Diskussionen aufkamen, wurden belächelt oder als spekulativ zurückgewiesen. Ich stimme ja auch zu, dass es gefährlich ist, die Fantasie spielen zu lassen, wenn wir wissenschaftlich genau arbeiten wollen, denn wir zielen ja auf eine vergangene Realität. Hier ist genau der Schnitt zwischen Roman und Fachbuch.
Aber was nützt mir eine trockene Wissenschaft, die auf alles Sinnieren und Fantasieren über die Zustände in den Konzentrationslagern und anderen Nazi-Lagern verzichtet, um ängstlich bei reinen Beschreibungen zu bleiben? Treffen diese etwa die Bedingungen der Lager besser? Die Gefühle der Gequälten und Gefolterten, der Hungernden und Ausgebeuteten kann man gar nicht objektiv beschreiben. Und doch sind sie nicht nur Teil der Historie, sondern ihr Kern. Statistiken von Toten, Fahrpläne der Reichsbahn oder Listen konfiszierten Gutes geben nur einen Rahmen ab, innerhalb dessen eine extrem grausame Geschichte ablief. Wer diese von allen Imaginationen sozusagen säubern will, verfälscht sie genauso wie der, der die Imagination zu Hilfe nimmt. Es sind die vormaligen Bewohner und Bewohnerinnen dieses Landes selbst, die dieses entsetzliche Paradox zustande gebracht haben.
Was meinen sie mit "Zeigen heißt Verschweigen"?
"Zeigen heißt verschweigen" ist ein Zitat des Historikers Reinhart Koselleck. Eigentlich meinte er damit konkret, dass die Erinnerung an etwas oder jemanden unbedingt das gleichzeitige Vergessen anderer mit sich bringt. Kaum taucht ein Name auf, schon stellt sich Empathie ein. Wir können uns viel besser vorstellen, wie jemand seine Tage in dem zugigen Zwangsarbeitslager am Rande des Tempelhofer Feldes verbrachte, wenn wir seinen Namen kennen. Woran liegt das? Anonymität erinnert sich offensichtlich nicht so leicht, und Menschen, deren Namen wir nicht kennen, vergessen wir leichter.
Beim "Zeigen" stürzen wir uns auf Individuen mit Vor- und Nachnamen. Wir schreiben die Namen auf. Gleichzeitig aber verschwinden die Namenlosen im Grau der Geschichte. Deshalb scheint mir Archäologie, die einen Zugang zu anonymen Zeugnissen hat, so bedeutungsvoll. Sie verhindert das Ungleichgewicht im Erinnern oder dämmt es wenigstens ein.
Was soll Ihre Leserschaft von Ihrem Buch mitnehmen?
Ich hoffe auf ein Verhältnis zur Vergangenheit, das genau die von Ihnen erwähnten uneingelösten Wünsche wahrnimmt, das die Schreie der Leidenden hören kann, statt die Toten zu vergessen. Warum sollen wir uns nur um die Zukunft der Erde sorgen? Haben wir keinen Grund, uns auch um die Menschen zu sorgen, die zutiefst verletzt, die gefoltert und grausam ermordet wurden?
Das Gespräch führte Dr. Eskandar Abadi.
Prof. Reinhard Bernbeck (*1958) unterrichtet Vorderasiatische Archäologie an der Freien Universität Berlin. Er studierte an der Pariser Sorbonne, der Freien Universität Berlin und der University of Michigan. Von 1997 bis 1999 war er Professor am Bryn Mawr College, Pennsylvania (USA), von 1999 bis 2009 an der Binghamton University in Binghamton (NY, USA). Seit 2009 lehrt er wieder an der Freien Universität Berlin. Er hat in vielen Ländern des Nahen Ostens Grabungen durchgeführt (Jordanien, Türkei, Iran, Turkmenistan, West Bank) und zahlreiche Bücher geschrieben.