1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Wo ist der Staat?

30. August 2018

Zweimal hintereinander konnten in Chemnitz rechte Demonstranten ihrem Hass auf Fremde freien Lauf lassen. Die Polizei schien hilflos. Manche warnen, solche Zustände könnten überall in Deutschland drohen.

Chemnitz - Proteste der Rechten mit Plakat mit blutigen Frauengesichtern
Bild: picture-alliance/AP Photo/J. Meyer

Es war nicht die erste Hetzjagd auf Ausländer. Aber die Zahl rechter Demonstranten, das Tempo, mit dem sie sich zusammenfanden, und die Überforderung der Polizei in Chemnitz haben Viele erschreckt. Schon Anfang der 1990er-Jahre gab es eine Welle von Gewalt gegen Fremde, schon damals nicht nur, aber vorwiegend im Osten Deutschlands. 2015 mit der Ankunft Hunderttausender Migranten wurde ein weiterer Höhepunkt ausländerfeindlicher Übergriffe erreicht. Seitdem ist die Stimmung gereizt.

Auslöser in Chemnitz war eine tödliche Auseinandersetzung zwischen Ausländern und Deutschen, bei der ein Deutscher mit einem Messer erstochen wurde. Tatverdächtig sind ein Syrer und ein Iraker. Doch rechte Demonstranten nutzten den Tod nur als Vorwand für eine Machtdemonstration und einen Akt der Selbstjustiz. Auf Videos ist zu sehen, wie Demonstranten Ausländer angreifen. Sie rufen "Wir sind das Volk", manche auch "Deutsch, sozial, national", auch der Hitlergruß ist zu sehen.

Zweimal hintereinander hatte die Polizei die Lage völlig unterschätztBild: picture-alliance/dpa/J. Woitas

Warnung vor "bürgerkriegsähnlichen Zuständen"

Der Staat hilflos, Ausländer oder die, die für solche gehalten werden, einem rechten Mob ausgeliefert - das ist der schlimme Eindruck von Chemnitz. Die Politik ist alarmiert. Holger Stahlknecht, der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, mahnt, wenn Staat und Gesellschaft jetzt nicht entschieden gegen eine Pogromstimmung aufträten, könnten die Dinge entgleiten: "Chemnitz kann morgen überall sein." Der SPD-Innenexperte Burkhard Lischka spricht von der Gefahr "bürgerkriegsähnlicher Zustände" in Deutschland. Und der Publizist Michel Friedman sagte der Deutschen Welle, die Vorfälle von Chemnitz seien "nur die Spitze einer demokratiefeindlichen Bewegung". Sie habe "ein breiteres Fundament in der Gesellschaft, als wir uns vorstellen wollen".

Wie schon mehrfach zuvor, steht Sachsen im Mittelpunkt. Jürgen Kasek von den sächsischen Grünen räumt gegenüber der DW ein: "Wir haben in Sachsen ein massives Problem mit Rechtsextremismus, Vorurteile, Rassismus, die von weiten Teilen der Bevölkerung mitgetragen werden." Friedman glaubt, Sachsen habe "viel Nachholbedarf", wenn "Menschen gejagt werden, nur weil sie anders aussehen". Der frühere sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich hatte sein Bundesland lange gegen Kritik verteidigt. Doch als ein wütender Mob 2016 einen Flüchtlingsbus in Clausnitz stundenlang belagerte und in Bautzen eine geplante Flüchtlingsunterkunft brannte, gab auch Tillich zu: "Ja, es stimmt: Sachsen hat ein Problem mit Rechtsextremismus."

In puncto rechtsextreme Gewalt ist Deutschland nach wie vor geteilt

Der Konfliktforscher Andreas Zick sagte im WDR über die rechte Szene in Sachsen: "Rechts ist mittlerweile so groß, dass sie eine eigene Nische gebildet haben, die alles bieten. Man besetzt dort den Raum, Rechte schaffen Arbeit, Rechte bieten Unterstützung und Hilfe an. Das hat sich über Jahre entwickelt. Das Problem ist, der Staat erreicht die Szene gar nicht mehr."

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei wehrt sich aber gegen eine pauschale Schelte der östlichen Bundesländer. "Wenn jetzt wieder allein auf die ostdeutschen Länder gezeigt wird, verharmlosen wir ein Problem, das überall in der Bundesrepublik existiert", sagte Ramelow dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Die AfD gießt Öl ins Feuer

Die Regierungschefs der östlichen Bundesländer haben aber allesamt ein politisches Problem, sich zu stark gegen Rechts zu stellen: Überall ist die AfD auf dem Vormarsch, in Sachsen, wo im kommenden Jahr Landtagswahlen stattfinden, wurde die Partei bei der jüngsten Bundestagswahl sogar stärkste Kraft. In ihrem verzweifelten Versuch, nicht noch mehr Wähler nach rechts zu verlieren, haben vor allem die CDU-Regierungschefs von Sachsen, Tillich und sein amtierender Nachfolger Michael Kretschmer, immer wieder verbale Zugeständnisse gemacht und die Gefahr relativiert. Der Islam gehöre nicht zu Sachsen, hat Tillich gesagt.

Die AfD ihrerseits weist jede politische Verantwortung für Chemnitz von sich. Diese liege bei "exakt Null", so der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen am Mittwoch im SWR. Die AfD-Bundestagsfraktion weist auf den Tod des Deutschen als Auslöser der Gewalt hin und schiebt den Medien einen Teil der Schuld zu: "Anstatt zuallererst die tödlichen Messerattacken (...) scharf zu verurteilen und mit aller Härte in Worten und Taten dagegen vorzugehen, hört man nur noch von vermeintlichen 'Hetzjagden'". Der AfD-Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier hatte die Selbstjustiz in Chemnitz in einem Tweet verteidigt: "Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Menschen auf die Straße und schützen sich selber. Ganz einfach!" Die AfD und die ausländerfeindliche Pegida haben für Samstag zu einem Schweigemarsch aufgerufen. Man wolle "gemeinsam um Daniel H. und alle Toten der Zwangsmultikulturalisierung Deutschlands trauern", wie es auf der Facebook-Seite der AfD heißt.

Hassobjekt Angela Merkel: Plakat der AfD vom Herbst 2015Bild: picture-alliance/dpa/D. Bockwoldt

Merkels Flüchtlingspolitk löst Agression aus

Die Abneigung gegen Bundeskanzlerin Merkels liberale Flüchtlingspolitik ist es, die eine ohnehin verbreitete Ausländerfeindlichkeit erst richtig angestachelt hat. Aber nicht nur die AfD kritisiert sie. Indirekt tat es etwa auch die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping von der SPD, als sie im ZDF sagte, die Menschen dort seien auf die große Zahl von Geflüchteten "überhaupt nicht vorbereitet" worden. Sogar die aus dem Osten stammende Sahra Wagenknecht, Linksfraktionsvorsitzende im Bundestag, hat von "Grenzen der Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung" und von einem "völligen Staatsversagen" gesprochen. "Der Staat hat die Kontrolle nicht mehr" und "Wir müssen Widerstand zeigen", das sind Standpunkte, die dem Konfliktforscher Andreas Zick zufolge die politische Rechte und weite Teile der Bevölkerung im Osten teilen.  

Scharf geführte Debatten um Migration sind die eine Sache, doch manche befürchten, es gehe inzwischen um etwas sehr Grundsätzliches. Jürgen Kasek von den sächsischen Grünen meint gegenüber der DW: "So kann es nicht weitergehen, denn das, was hier herausgefordert wird, ist die Demokratie an sich." Michel Friedman wägt ab: "Die Demokratie in Deutschland ist wehrhaft, aber an einigen Stellen erfüllt sie nicht ausreichend die Voraussetzungen, um das zu beweisen." Ein Staat, der Flagge zeigt, das ist das, was Politiker aus allen Parteien jetzt fordern. Der CDU-Politiker Holger Stahlknecht greift den Spruch der rechten Demonstranten, "Wir sind das Volk", auf und dreht ihn um. Er meinte alle demokratischen Kräfte im Land, als er im Bayerischen Rundfunk sagte: "Wir sind der Staat."

 

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen