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Kunst

"Scham. 100 Gründe, rot zu werden"

Sabine Peschel
26. November 2016

Weshalb schämt man sich für andere? Warum läuft die Freundin rot an? Und was hat das alles mit Nacktheit zu tun? Eine Ausstellung über die Scham erkundet Anlässe und Gründe für das chaotische Gefühl.

"Scham"- Feigenblatt von Bruce Richards
Bild: Courtesy of the Artist and Jack Rutberg Fine Arts, Los Angeles, CA USA

Den direkten Blick vermeiden, den Kopf senken, die Hand vor den Mund halten – diese Gesten gehören in Japan zum üblichen Kommunikationsverhalten. Sie sind etablierte Verhaltensweisen, um  Bescheidenheit, Unterwürfigkeit oder gar Scham auszudrücken. Ist die japanische eine "Kultur der Scham und Verlegenheit", wie es manche Studien behaupten?

Ist Scham immer historisch und kulturell bestimmt? Hängt, was als schamlos empfunden wird, von unserer Umgebung und unseren Traditionen ab? Und leben wir heutzutage in einer Kultur der Schamlosigkeit, wenn Nacktheit und sexuelle Freizügigkeit enttabuisiert, grelle Bilder und laute Töne medial und gesellschaftlich dominant sind?

Oder ist die Fähigkeit, Scham zu empfinden, nicht vielmehr eine wichtige gesellschaftlich regulierende Konstante, die von Natur aus im Menschen angelegt ist? Ist Scham nicht unerlässlich für die Organisation menschlicher Gesellschaften, ein "Affekt der Verhältnismäßigkeit"?

Die Scham gehört zum Menschsein

Ein Hochglanz-Feigenblatt an den Umrissen von Michelangelos DavidBild: Oliver Killig

Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden setzt sich in einer Sonderausstellung mit diesen Fragen auseinander: "Scham. 100 Gründe, rot zu werden" nähert sich dem Phänomen von unterschiedlichen Seiten und interdisziplinär – wissenschaftlich, historisch und künstlerisch. Ab Samstag (26.11.2016) können die Besucher in einem Rundgang Gefühle von Scham und Peinlichkeit am eigenen Leib erfahren.

Es gibt unendlich viele Gründe, sich zu schämen. In Dresden werden 100 davon erlebbar, in einem Parcours der Gründe und Anlässe der Scham: Wenn man sich zum Beispiel ungewollt auf einer Waage wiederfindet oder der eigene Blick auf die Körperteile einer Skulptur insgeheim genau verfolgt und in den Raum projiziert wird. Existenziell wird die Scham, wenn man sich Exponaten vergangener Grausamkeiten gegenübersieht und sich unversehens vergegenwärtigen muss, dass man zur zum Massenmord fähigen Gattung Mensch gehört.

Scham und Beschämung im Internet

Individueller Grausamkeit begegnet man inzwischen oft im Internet. Der junge Amerikaner Tyler Clementi überlebte das Cyber-Mobbing durch seinen Zimmergenossen nicht. Aus Scham über eine heimlich per Webcam gestreamte intime Begegnung beging der sensible und hochbegabte Violinist Selbstmord. Der Fall machte weltweit Schlagzeilen. Donald Trump überstand sein virales Pussy-Gate unbeschadet, indem er sich schamlos zu den schmutzigen Vorlieben seines Geschlechts bekannte – Männer unter sich, angeblich reden sie eben so. Das Leben der Praktikantin Monica Lewinskys war fast zerstört, nachdem ihre Liebesgeschichte mit einem Präsidenten öffentlich wurde. "Bill Clinton gilt heute als einer der beliebtesten amerikanischen Präsidenten aller Zeiten, das Gesicht von Monica Lewinsky wird indessen auf immer mit diesem Skandal verbunden sein", reflektiert die Schriftstellerin und Kulturkorrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung Andrea Köhler in ihrem Katalog-Beitrag über den "Online-Pranger". Scham und Beschämung im Internet, eines der Themen unserer Zeit, dem die Ausstellung nachforscht.

Die Doppelgesichtigkeit der Scham

Der Katalog wurde von Daniel Tyradellis im Wallstein Verlag herausgegeben, Göttingen 2016, 224 Seiten. Er enthält literarische Miniaturen, Abbildungen und Essays.

Von der grundsätzlichen "Janusköpfigkeit der Scham" spricht Daniel Tyradellis, der Kurator der Ausstellung. Scham sei gleichermaßen ein soziales, ein überpersönliches wie ein individuelles, persönliches Gefühl. "Nach allem, was man weiß, schämt sich das Menschenwesen bereits mit etwa 18 Monaten", schreibt der Philosoph im Katalog. Niemand schämt sich gern, nicht für sich selbst, nicht – wie häufig in der Pubertät – für seine Eltern, auch nicht wegen körperlicher Deformationen, seien sie real oder eingebildet. Trotzdem hat die Scham eine notwendige, gemeinschaftsbildende Funktion als sozialer Wächter. "Sie prägt die privaten Beziehungen ebenso wie die professionellen, die persönlichen ebenso wie die institutionellen."

Der im Wallstein Verlag erschienene Begleitband zur Sonderaustellung "Scham" versammelt Kulturtheoretiker, Philosophen, Filmkritiker und Künstler mit analytischen Betrachtungsweisen. Zwischen diesen Beiträgen stehen aber auch ganz verschiedenartige Stimmen von Schriftstellern, etwa Jean-Jacques Sempés Figur Benjamin Kiesel. Die Illustration des kleinen Freundes Benjamin mit dem immer roten Kopf findet sich neben einem Auszug aus Wolfgang Herrndorfs "Scham und Ekel GmbH" – "eine Schamvollzugsveranstaltung wie die Pubertät". Dabei auch Primo Levi, der fragt, ob die Scham vielleicht daher komme, dass man anstelle eines anderen lebt. Auch unabhängig von der Ausstellung ist der Katalog ein wichtiges weiterführendes Werk zum Thema.

Die Ausstellung "Scham. 100 Gründe rot zu werden" ist vom 26.11.2016 bis zum 5.6.2017 im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden zu sehen.

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