Weshalb schämt man sich für andere? Warum läuft die Freundin rot an? Und was hat das alles mit Nacktheit zu tun? Eine Ausstellung über die Scham erkundet Anlässe und Gründe für das chaotische Gefühl.
Bild: Courtesy of the Artist and Jack Rutberg Fine Arts, Los Angeles, CA USA
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Ausstellung "Scham. 100 Gründe, rot zu werden"
Die Blutgefäße erweitern sich, wir erröten und möchten am liebsten im Erdboden versinken. Aber warum, was steckt hinter diesem Gefühl der Scham? Ein Ausstellung des Dresdner Hygiene-Museums erforscht die Gründe.
1857 erhielt die englische Königin Victoria von einem italienischen Herzog eine Kopie des David von Michelangelo geschenkt. Die Queen war von der Nacktheit der Skulptur so schockiert, dass sie das Geschlecht der Figur mit einem Feigenblatt bedecken ließ. "Grand Tour" von 2014 (Edelstahl) ist diesem Blatt nachempfunden. Das Feigenblatt symbolisiert seit Adams und Evas Sündenfall die Scham.
Bild: Courtesy of the Artist and Jack Rutberg Fine Arts, Los Angeles, CA USA
Schamkapsel
Mitte des 16. Jahrhunderts wurden die Schamkapseln an den Harnischen der Ritter und Landsknechte betont und nicht etwa verschämt versteckt. Hier ein Exemplar von ca. 1550 aus dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Das Gefühl der Scham ist zwar universell, verbindet sich aber mit den Normen seiner Zeit und Kultur – und der unterschiedlichen Regulierung des zwischenmenschlichen Blicks.
Scham und Schuld: Die Schandmasken des 17. Jahrhunderts sollten beides ausdrücken. Schwätzende Frauen mussten Masken mit übergroßen Mündern tragen, Masken für Klatschsüchtige wiesen oft riesige Ohren auf. Das Pendant für Männer war eine Schandmaske in Form eines Sauschädel oder -rüssels. Die Bestraften mussten sich den Blicken ihrer Mitmenschen öffentlich aussetzen.
Scham hat eine Doppelrolle: Sie kann schützen und zerstören. Gesunde Scham schützt die persönliche Würde und Integrität, sie hält den kulturellen Sittenkodex aufrecht. Die Psychoanalyse hat sich mit dem menschlichen Schamgefühl auseinandergesetzt. Sigmund Freud sah die Scham als Reaktion auf das Entblößtsein, als "Sexualschranke" gegen Voyeurismus und Exhibitionismus.
Bild: Abguss-Sammlung Antiker Plastik Berlin
Röntgenuntersuchung
Der Mensch wird gläsern, verliert den Schutz der äußeren Haut. Doch man schämt sich gegenüber Menschen, von denen man sich abhängig fühlt, will der Situation entfliehen, fühlt sich aber fixiert und gelähmt. Auch schon 1896, als das Foto entstand, ging es darum, die Würde und Selbstachtung des Individuums zu respektieren und destruktive Beschämung zu vermeiden.
Bild: Deutsches Röntgen-Museum, Remscheid
Fotos eines Voyeurs
Diese geheimen Foto-Blicke unter den Rock von Frauen finden sich in einer kriminalpolizeilichen Dokumentation von 1963. Sie zeigen einen Verstoß gegen eine stillschweigende Übereinkunft, den Verlust des Ehrgefühls. Sie sind unmoralisch, indem sie die Schamgrenze der Frauen missachten. Diese Grenze regelt den Umgang der Menschen miteinander, häufig unterhalb der Oberfläche des offen Gesagten.
Bild: Polizeihistorische Sammlung Berlin
Valie Export: Tapp- und Tastkino
Auch hier ging es um Voyeurismus: Die Künstlerin Valie Export performte 1968 ihr "Tapp- und Tastkino" auf dem Münchner Stachus als Zeichen "gegen den Betrug des Voyeurismus". Ihr Auftritt war Kritik an einem Bilderkonsum, der Präsentation von weiblichen Körpern in Pornografie und Populärkultur. Anders als im Kino lieferte sich der nackte Körper der Künstlerin den Blicken nicht passiv aus.
Bild: Die Künstlerin und sixpackfilm, VG Bildkunst, Bonn 2016
Jörg Buttgereit: Mein Papi 1981 - 1985
Der Berliner Filmemacher Jörg Buttgereit wurde durch seine punkigen Trashfilme zur Legende. Einer seiner frühen, anarchistischen Kurzfilme ist der später preisgekrönte Super-8-Film "Mein Papi". Die gnadenlose Studie über den eigenen Vater ist eines der Videos in der Ausstellung, die sich mit Geschlechterrollen und Vorstellungen von Scham und Schamlosigkeit beschäftigen.
Bild: courtesy of the artist
Christian Jankowski: Schamkasten
1992 zeigte der damals erst 24-jährige Christian Jankowski mit "Schamkasten" Menschen, die sich im Schaufenster seiner Hamburger Ladenwohnung zu den Dingen, für die sie sich schämten, bekannten. "Ich schäme mich für die maßlose Rücksichtslosigkeit und Borniertheit der Menschen" war auf einer anderen der Tafeln des subversiven Konzeptkünstlers zu lesen.
Bild: courtesy of the artist
Joanna Rytel: Animal Performance
Die schwedische Performance- und Videokünstlerin Joanna Rytel versetzt ihre Zuschauer in die Rolle des Voyeurs. In einer Reihe früher Arbeiten tanzte sie vor Tieren, so auch in diesem 12-minütigen Video von 2002. Sie tanzte oder strippte vor Tieren, die in Gefangenschaft gehalten wurden. Wer beobachtet wen und warum? Die Künstlerin provoziert - jenseits des guten Geschmacks.
Bild: Joanna Rytel, Foto: Björn Kjelltoft
Jan M. Sieber, Ralph Kistler: Monkey-Business
Was hatte die interaktive Installation von Ralph Kistler und Jan M. Sieber aus dem Jahr 2011 mit Scham zu tun? Ein computergesteuerter Spielzeugaffe imitiert die Bewegungen seines Betrachters. Elegant oder zappelnd provoziert er sein Publikum zu immer neuen Verrenkungen – bis am Ende die Frage stehen bleibt: Wer hat hier eigentlich die Kontrolle? Wer zieht die Strippen?
Bild: Ralph Kistler & Jan M. Sieber
Megumi Igarashi: Vagina Kayak
Die japanische Künstlerin lotete 2014 die Schamgrenzen ihrer Kultur aus: Sie verkaufte 3D-Druckdateien ihrer eigenen Vagina, um mit den Einnahmen ein nach ihrer Vagina gestaltetes Kajak zu finanzieren. Dafür wurde sie verhaftet und mit einer Geldstrafe belegt. Igarashi weigerte sich zu zahlen, weil ihrer Meinung nach die weibliche Anatomie nicht obszön ist. Die Öffentlichkeit sah das genauso.
Bild: 6d745 a.k.a. Rokudenashiko
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Den direkten Blick vermeiden, den Kopf senken, die Hand vor den Mund halten – diese Gesten gehören in Japan zum üblichen Kommunikationsverhalten. Sie sind etablierte Verhaltensweisen, um Bescheidenheit, Unterwürfigkeit oder gar Scham auszudrücken. Ist die japanische eine "Kultur der Scham und Verlegenheit", wie es manche Studien behaupten?
Ist Scham immer historisch und kulturell bestimmt? Hängt, was als schamlos empfunden wird, von unserer Umgebung und unseren Traditionen ab? Und leben wir heutzutage in einer Kultur der Schamlosigkeit, wenn Nacktheit und sexuelle Freizügigkeit enttabuisiert, grelle Bilder und laute Töne medial und gesellschaftlich dominant sind?
Oder ist die Fähigkeit, Scham zu empfinden, nicht vielmehr eine wichtige gesellschaftlich regulierende Konstante, die von Natur aus im Menschen angelegt ist? Ist Scham nicht unerlässlich für die Organisation menschlicher Gesellschaften, ein "Affekt der Verhältnismäßigkeit"?
Die Scham gehört zum Menschsein
Ein Hochglanz-Feigenblatt an den Umrissen von Michelangelos DavidBild: Oliver Killig
Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden setzt sich in einer Sonderausstellung mit diesen Fragen auseinander: "Scham. 100 Gründe, rot zu werden" nähert sich dem Phänomen von unterschiedlichen Seiten und interdisziplinär – wissenschaftlich, historisch und künstlerisch. Ab Samstag (26.11.2016) können die Besucher in einem Rundgang Gefühle von Scham und Peinlichkeit am eigenen Leib erfahren.
Es gibt unendlich viele Gründe, sich zu schämen. In Dresden werden 100 davon erlebbar, in einem Parcours der Gründe und Anlässe der Scham: Wenn man sich zum Beispiel ungewollt auf einer Waage wiederfindet oder der eigene Blick auf die Körperteile einer Skulptur insgeheim genau verfolgt und in den Raum projiziert wird. Existenziell wird die Scham, wenn man sich Exponaten vergangener Grausamkeiten gegenübersieht und sich unversehens vergegenwärtigen muss, dass man zur zum Massenmord fähigen Gattung Mensch gehört.
Scham und Beschämung im Internet
Individueller Grausamkeit begegnet man inzwischen oft im Internet. Der junge Amerikaner Tyler Clementi überlebte das Cyber-Mobbing durch seinen Zimmergenossen nicht. Aus Scham über eine heimlich per Webcam gestreamte intime Begegnung beging der sensible und hochbegabte Violinist Selbstmord. Der Fall machte weltweit Schlagzeilen. Donald Trump überstand sein virales Pussy-Gate unbeschadet, indem er sich schamlos zu den schmutzigen Vorlieben seines Geschlechts bekannte – Männer unter sich, angeblich reden sie eben so. Das Leben der Praktikantin Monica Lewinskys war fast zerstört, nachdem ihre Liebesgeschichte mit einem Präsidenten öffentlich wurde. "Bill Clinton gilt heute als einer der beliebtesten amerikanischen Präsidenten aller Zeiten, das Gesicht von Monica Lewinsky wird indessen auf immer mit diesem Skandal verbunden sein", reflektiert die Schriftstellerin und Kulturkorrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung Andrea Köhler in ihrem Katalog-Beitrag über den "Online-Pranger". Scham und Beschämung im Internet, eines der Themen unserer Zeit, dem die Ausstellung nachforscht.
Die Doppelgesichtigkeit der Scham
Der Katalog wurde von Daniel Tyradellis im Wallstein Verlag herausgegeben, Göttingen 2016, 224 Seiten. Er enthält literarische Miniaturen, Abbildungen und Essays.
Von der grundsätzlichen "Janusköpfigkeit der Scham" spricht Daniel Tyradellis, der Kurator der Ausstellung. Scham sei gleichermaßen ein soziales, ein überpersönliches wie ein individuelles, persönliches Gefühl. "Nach allem, was man weiß, schämt sich das Menschenwesen bereits mit etwa 18 Monaten", schreibt der Philosoph im Katalog. Niemand schämt sich gern, nicht für sich selbst, nicht – wie häufig in der Pubertät – für seine Eltern, auch nicht wegen körperlicher Deformationen, seien sie real oder eingebildet. Trotzdem hat die Scham eine notwendige, gemeinschaftsbildende Funktion als sozialer Wächter. "Sie prägt die privaten Beziehungen ebenso wie die professionellen, die persönlichen ebenso wie die institutionellen."
Der im Wallstein Verlag erschienene Begleitband zur Sonderaustellung "Scham" versammelt Kulturtheoretiker, Philosophen, Filmkritiker und Künstler mit analytischen Betrachtungsweisen. Zwischen diesen Beiträgen stehen aber auch ganz verschiedenartige Stimmen von Schriftstellern, etwa Jean-Jacques Sempés Figur Benjamin Kiesel. Die Illustration des kleinen Freundes Benjamin mit dem immer roten Kopf findet sich neben einem Auszug aus Wolfgang Herrndorfs "Scham und Ekel GmbH" – "eine Schamvollzugsveranstaltung wie die Pubertät". Dabei auch Primo Levi, der fragt, ob die Scham vielleicht daher komme, dass man anstelle eines anderen lebt. Auch unabhängig von der Ausstellung ist der Katalog ein wichtiges weiterführendes Werk zum Thema.
Die Ausstellung "Scham. 100 Gründe rot zu werden" ist vom 26.11.2016 bis zum 5.6.2017 im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden zu sehen.