Wohin geht die Reise? Der Tourismus nach der Corona-Krise
24. April 2020DW: Die Welttourismusorganisation UNWTO prognostiziert für dieses Jahr, dass nur noch eine Milliarde Menschen international reisen werden im Vergleich zu 1,4 Milliarden im Jahr 2019. Das ist ein Drittel weniger. Hat es einen Einbruch in dieser Größenordnung überhaupt schon einmal gegeben?
Ulf Sonntag: Nein, den hat es so in der Form noch nicht gegeben. Und ich bin mir unschlüssig, ob die Annahmen der UNWTO nicht sogar zu optimistisch sind. Die OECD, also die Organisation der Industriestaaten, rechnet für ihre 36 Mitgliedsstaaten sogar mit einem Einbruch von 40 bis 70 Prozent an internationalen Reisenden in diesem Jahr.
In Deutschland ist gerade die große Diskussion über den Sommerurlaub im Gange. Was glauben Sie: Müssen wir dieses Jahr alle zu Hause bleiben?
Es hängt alles von den politischen Rahmenbedingungen ab, und die sind sehr schwer vorauszusagen. Der Wille der politisch Entscheidenden scheint vorhanden zu sein. Es gibt auch erste Szenarien, in welcher Reihenfolge Touristen wieder in die Urlaubsorte dürfen: nämlich zuerst Eigentümer von Zweitwohnsitzen, dann Übernachtungstouristen und zuletzt Tagesgäste. Ich hoffe, dass wir vielleicht ab Mitte, Ende Mai wieder ein erstes zartes Pflänzchen von Inlandstourismus sehen werden. Aber ab wann wir wieder Grenzen überschreiten dürfen, kann wirklich im Moment niemand sagen.
Die deutschen Ostsee- und Nordseebäder überlegen zum Beispiel, nur jedes zweite Hotelbett zu belegen, um die Massen zu reduzieren. Aus Italien kam der Vorschlag, Strandliegen und Restauranttische mit Plexiglasboxen voneinander zu trennen. Wie realistisch sind solche Vorschläge?
Wir werden den Abstandsregeln noch lange folgen müssen, bis es einen Impfstoff gegen Corona gibt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass im Moment solche Planspiele gemacht werden: Wie kann man verhindern, dass sich zu viele Menschen auf zu engem Raum aufhalten? Eine Lösung könnte sein, dass eben nur jedes zweite Zimmer vermietet wird. Oder nur jedes zweite Hotel öffnet. Oder dass man sich am Strand nicht zu nahe kommt. Ob Plexiglas wirklich die Lösung ist, muss man im Detail sehen. Aber an diesen Beispielen sieht man, wie kreativ und innovativ versucht wird, die stark gefährdete Tourismusindustrie zu retten.
Wir in Deutschland sind da ja ganz gut aufgestellt, weil wir den Strandkorb haben oder?
(lacht) Stimmt, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Der Strandkorb wurde zwar erfunden, um die Urlauber an Nord- und Ostsee vor dem kalten Wind hier oben im Norden zu schützen. Aber ja, er ist auch bestens als Abstandshalter geeignet.
Schauen wir in die fernere Zukunft: Viele bewegt die Frage, wann es wieder volle Reisefreiheit geben wird. Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit wir wieder grenzenlos reisen können?
Ich befürchte, die Öffnung der Grenzen für den Reiseverkehr werden wir erst ganz am Ende des schrittweisen Rückgangs zur Normalität erleben. Vielleicht zunächst hier in Europa. Aber global? Da brauchen wir wohl erst einen Impfstoff gegen Corona oder eine wirksame Behandlung.
Werden die Menschen dann genau so sorglos und selbstverständlich reisen wie zuvor oder rechnen Sie mit einem veränderten Reiseverhalten der Menschen, weg vom Massentourismus?
Der Tourismus gehört in fast allen Gesellschaften, zumindest in Europa, zum normalen Leben dazu. Und die Menschen werden froh sein, wieder reisen zu dürfen. In welchem Umfang sie sich das leisten können, hängt davon ab, wie hart wir von der folgenden Wirtschaftskrise getroffen werden. Aber insgesamt wird der Nachholbedarf sehr groß sein.
Allerdings ist es schwer vorauszusagen, ob die Menschen ganz genau so reisen wie zuvor oder ob einige für sich Konsequenzen ziehen. Die aktuelle Diskussion in der Branche geht eher in Richtung des qualitätsorientierten Tourismus. Reiseveranstalter und ihre Partner in den Zielregionen nutzen vielfach die Zeit, um die Angebote nachhaltiger zu gestalten. Auch bei den Kunden gibt es eine gewisse Bereitschaft, zukünftig etwas nachhaltiger zu reisen, falls es die Kosten zulassen. Wenn es also eine Chance für die Branche gibt, sich neu zu orientieren und zukünftige Urlaubsprodukte anders aufzustellen, dann ist sie jetzt. Ob wir uns nach Corona aber wirklich ein Stück weg vom Massentourismus, so wie wir ihn kannten, bewegt haben, ist offen.
Die Corona-Krise treibt viele touristische Unternehmen und Firmen weltweit in die Insolvenz und damit wird die Konkurrenz am Markt deutlich geringer werden. Müssen wir am Ende der Pandemie mit höheren Reisekosten rechnen?
Es ist natürlich schmerzhaft, dass jetzt eine Reihe von Tourismusbetrieben unverschuldet in die Pleite getrieben wird. Aber auch wenn die Konkurrenz am Ende der Corona-Krise kleiner sein sollte, die Nachfrage ist es zunächst auch. Weil Ängste und Vorbehalte bei den Menschen existieren und weil viele ihr Geld erst einmal zusammenhalten wollen und müssen. Deshalb schätzen wir, dass die Preise nicht exorbitant steigen. Aber wir rechnen auch nicht mit totalen Schnäppchen.
Interessant ist auch ein Blick auf die Kreuzfahrtindustrie. Die stand in den letzten Wochen besonders im Fokus der Nachrichten. Wird sie einen bleibenden Imageschaden davontragen?
Ich kann mir vorstellen, dass die Kreuzfahrtindustrie etwas stärker argumentieren und informieren muss als vielleicht andere Reisesegmente. Eben weil die unschönen Bilder von den Schiffsquarantänen in der Presse waren. Und es ist nun einmal eine Urlaubsform, bei der viele Menschen auf engem Raum für eine lange Zeit zusammen leben. Allerdings höre ich aktuell, dass für nächstes Jahr die Kreuzfahrten schon wieder ziemlich gut gebucht werden. Das heißt, die Kunden trauen der Branche durchaus zu, die Sicherheit auf den Schiffen wieder zu gewährleisten. Es ist interessant zu sehen, in welchem Verhältnis die Faszination für eine Urlaubsart einerseits und die Risikowahrnehmung und das Sicherheitsbedürfnis andererseits stehen.
Letzte Frage: Wenn das Reisen wieder ohne Einschränkungen möglich sein wird, was ist für Sie persönlich das nächste Reiseziel?
Wir haben jetzt für den Sommer eigentlich eine Reise nach Portugal geplant. Und ich hab ehrlich gesagt die Hoffnung auch noch nicht ganz aufgegeben, dass doch ein Wunder geschieht und wir dorthin fahren können. Wenn nicht, dann holen wir es später einfach nach. Ansonsten bin ich der Prototyp eines multioptionalen Kunden: Ich kann mir fast überall vorstellen, einen schönen Urlaub zu verbringen – je nachdem, was möglich sein wird.