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Politik

Wohin mit den neuen Migranten?

4. März 2020

Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei liegt in Scherben, Griechenland hat daher das Asylrecht ausgesetzt. Neu ankommende Migranten werden dadurch zum Spielball der Behörden. Von der Insel Lesbos berichtet Florian Schmitz.

Griechenland Flüchtlinge in Lesbos
Bleiben auf Lesbos oder Weitertransport auf das griechische Festland? Bild: DW/F. Schmitz

Nach 48 Stunden Anarchie ist Lesbos wieder zur Ruhe gekommen. Bizarr muteten die Bilder von Dienstagnachmittag am Hafen der Hauptstadt Mytilini an. Hunderte Migranten waren vom Camp Moria in die Hafenstadt gekommen in der Erwartung, die Insel endlich verlassen zu können. Den ganzen Tag über waren Menschen unterwegs, voll bepackt, mit Κinderwagen und hoffnungsvollen Gesichtern: "Wir fahren nach Athen!" Ein Gerücht hatte unter vielen der etwa 23.000 Asylsuchenden in Moria die Runde gemacht. Im Internet kursierten Behauptungen, eine Gruppe Migranten habe Tickets für die Fähre nach Athen kaufen können und sei in die griechische Hauptstadt gereist. Der Deal mit der Türkei sieht vor, dass Migranten die Hotspot-Inseln nicht verlassen dürfen. Die Aussicht auf Weiterreise war für viele Grund genug, alle Zweifel außer Acht zu lassen, um dem Chaos der improvisierten Flüchtlingsstadt am Rande Europas endlich den Rücken zu kehren.

Die Hand des Staates

Nach den Straßenblockaden rechter Mobs der Vortage war die Stimmung am Dienstag auf der Insel auf einmal wie ausgewechselt. Pünktlich zum Besuch der neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und des griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis am Grenzfluss Evros wurde auch die Polizeipräsenz auf der Insel spürbar erhöht. Zahlreiche Journalisten und Flüchtlingshelfer hatten zuvor die Insel verlassen, aus Angst vor rechten Gruppierungen, denen es beinahe gelang, die Kontrolle zu gewinnen. Eines aber schafften sie dann doch: Die Flüchtlinge, die es nach der Grenzöffnung der Türkei per Gummiboot an die Inselküste geschafft hatten, wurden nicht in Moria untergebracht. Wütende Bürger hatten die Straßen versperrt und die Busse mit den Neuankömmlingen daran gehindert, ins Camp zu gelangen.

Neu angekommene Flüchtlinge am 2. März an einem Strand auf Lesbos. Bild: picture-alliance/Xinhua/M. Lolos

Ein günstiges Ausnahmeszenario für den griechischen Ministerpräsidenten. Nachdem Ankara die lang angedrohte Aufkündigung des Flüchtlingsdeals in die Realität umgesetzt hatte, verkündete Kyriakos Mitsotakis, das Asylrecht für einen Monat auszusetzen. Sprich: Jeder, der ohne gültige Papiere griechischen Boden betritt, soll umgehend ausgewiesen werden. Nachdem man monatelang Vorwürfe von sich wies, Flüchtlinge illegal in die Türkei abzuschieben, machte Athen kurzum die Not zur Tugend: Abschiebung um jeden Preis im Namen des Grenzschutzes. In der Realität bedeutet dies: Flüchtlinge sind ab jetzt in zwei Klassen aufgeteilt. Die, die bereits da sind und auf ihr Asylverfahren warten. Und die, die gerade angekommen sind und denen das Recht auf ein faires Verfahren per se abgesprochen wird.

In Lesbos musste man für diese eine neue Lösung finden. Da man sie in Moria nicht unterbringen konnte, wurden sie in eine Anlage an den Hafen gebracht. Dort versammelten sich am Dienstag auch die vielen Flüchtlinge, die auf die Fähre nach Athen hofften. Am frühen Nachmittag dann begann es langsam zu brodeln in Mytilini. Sondereinsatzkräfte drängten die Menschenmassen unter den Augen der internationalen Presse aus dem Hafengelände in die Innenstadt. Ein Korso aus Beamten in voller Ausrüstung, Kameraleuten und mikrofontragenden Reportern sowie den Asylsuchenden bewegte sich langsam am Meer entlang in Richtung Stadtzentrum. Mitunter kam es zu kurzen Krawallen zwischen der Polizei und Flüchtlingen. Nach etwa 45 Minuten löste sich der Korso auf.

Ratlosigkeit über die europäische Abschiebepraxis

Bis dahin aber hatten es die Einsatzkräfte geschafft, den Hafen zu räumen und jene Asylsuchende, die bereits seit Monaten und mitunter Jahren in Moria ausharren, von denen zu trennen, die irgendwo auf dem Hafengelände von der öffentlichen Aufmerksamkeit abgeschirmt wurden. Während man die einen in Bussen zurück ins Camp brachte, warteten die anderen auf ein Schiff der griechischen Marine. Nach Informationen der griechischen Regierung sollen diese an Bord vorübergehend untergebracht werden. Das weitere Vorgehen ist unklar. Nach dem Willen Athens und mit dem Einverständnis der Europäischen Union sollen sie sobald wie möglich abgeschoben werden. Aber wohin? Und was soll in der Zwischenzeit passieren?

Übergangsquartier zu Wasser für 400 Flüchtlinge?Bild: DW/F. Schmitz

Aus Mangel an Informationen und angesichts fehlender Optionen kann man hier nur mutmaßen. Werden sie in ein Gefängnis auf das griechische Festland gebracht? Schließlich werden sie durch das Aussetzen des Asylrechts in Griechenland kriminalisiert. Es können sogar Geld- oder Gefängnisstrafen gegen sie verhängt werden. In Anbetracht der derzeitigen Situation mit Ankara scheint es zudem unmöglich, sie zurück in die Türkei zu bringen. Immerhin liegt die Essenz von Erdogans neuer Asylagenda darin, Europa mit der eigenen Rat- und Tatenlosigkeit zu konfrontieren. Es ist kaum vorstellbar, dass er einem griechischen Marineschiff die Einfahrt in einen türkischen Hafen gewährt und Menschen aufnimmt, die er bewusst ins Nachbarland hat ausreisen lassen.

Auf dem Menschenrechtsauge blind          

Die neuen Flüchtlinge sind die Bauernopfer eines politischen Schachbrettkampfes zwischen Europa und der Türkei. Die Bilder vom Evros könnten symbolischer nicht sein. Tausende von Menschen gefangen zwischen zwei geschlossenen Grenzübergängen. Der griechische Ministerpräsident beruft sich bei der Aussetzung des Asylrechts auf Artikel 78, Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU. Dieser ermöglicht bestimmte Maßnahmen, sofern ein Mitgliedsland angesichts eines "plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen sich in einer Notlage" befindet.

Außerdem bedient man sich eines aktuellen Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), um die Rückführung der Flüchtlinge zu rechtfertigen und sie so erst gar nicht zu Asylsuchenden werden zu lassen. Das Gericht hatte im Fall zweier afrikanischer Flüchtender, die den Grenzzaun der spanischen Enklave Melilla überwunden hatten und von spanischen Beamten direkt abgeschoben wurden, zugunsten Madrids entschieden und die Abschiebung für rechtmäßig erklärt.

Für den Fall Griechenland aber ist fraglich, ob die Entscheidung des EGMR tatsächlich greift. Die zuständigen Richter hatten in ihrem Urteil angemerkt, dass es für die beiden Afrikaner noch andere, legale Wege ins Land gab. Den Menschen aber, die im türkisch-griechischen Niemandsland festsitzen, stehen diese Wege nicht zur Verfügung. Außerdem bezieht sich das Urteil auf Landes- und nicht, wie im Fall von Lesbos, auf Meergrenzen.

Die Frage ist also wo, bei wem und an welcher Stelle den Flüchtlingen die Möglichkeit gegeben wird, Asyl zu beantragen. Es werden mehr Flüchtlinge nach Europa kommen. Ein ziel- und planlos durch die Ägäis manövrierendes Schiff wird auch für sie keine Lösung sein. 

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