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Glaube

Woke Gutmenschen

26. Januar 2024

Wokeness lässt sich mit Wachsamkeit übersetzen. Woke Menschen nehmen Unrecht genau wahr. Sie werden aber auch als selbstgefällige Moralapostel verurteilt. Zu Recht? Ein Beitrag der evangelischen Kirche.

Black lives Matter Demonstration für Michael Brown
Black lives Matter Demonstration für Michael Brown im August 2015 in FergusonBild: Scott Olson/Getty Images

"Seid nüchtern und wacht! Denn der Teufel geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge." Ein ganz schön steiler und krasser Satz ist das, der da in der Bibel steht (1. Petrus 5,8). Denn wer glaubt heute noch an den Teufel oder wer bleibt schon immer nüchtern?

Huddie William Ledbetter alias Lead Belly ganz sicher nicht. Der afroamerikanische Sänger wuchs in einem Nest in Louisiana auf, im tiefsten Süden der USA. Er liebte den Blues und Folksongs. Vor 100 Jahren schlug er sich mit Mandoline, Akkordeon und Geige in den Rotlichtbezirken von Dallas herum, sang über Cowboys und Whiskey, Frauen und Rassisten, die Arbeit und die versunkene Titanic. Er landete mehrmals im Gefängnis und wurde dann mit seiner Gitarre und hellen Tenorstimme doch noch berühmt auf unzähligen Bühnen und in angesagten Clubs.

Lead Belly verwendete das Wort "woke" zum ersten MalBild: Heritage Art/Heritage Images/picture alliance

1938 nahm Lead Belly einen Song über die "Scottsboro Boys" auf, neun Teenager, die in Alabama zum Tode verurteilt wurden. Die Anklage wegen Vergewaltigung zweier weißer Frauen während einer Zugfahrt war erlogen und konstruiert und entbehrte aller Beweise. Auf den elektrischen Stuhl kamen die neun jungen Männer trotzdem. Am Ende der Aufnahme sagte Lead Belly ins Mikro: "Also, ich rate euch, passt ein bisschen auf, wo ihr hingeht! Am besten bleibt wachsam, haltet die Augen auf!" Im Original: "Best stay woke, keep eyes open!"

Das Wörtchen "woke" - Slang für "awake" - war in der Welt und zog sehr bald ins Vokabular der Anti-Rassismus-Proteste in den USA ein.

Auch 2014: Damals war der 18-jährige afroamerikanische Teenager Michael Brown in Ferguson im Bundesstaat Missouri von einem Polizisten wehrlos erschossen worden. Heftige Demonstrationen gegen die Polizeigewalt waren die Folge und die Black-Lives-Matter-Bewegung nahm Fahrt auf. "Stay woke!" wurde ihr Motto.

Wachsam bleiben gegen Rassismus, gegen Gewalt und Diskriminierung ist gut, sollte man meinen.

Aber konservative und rechte Politikerinnen und Politiker drehten die Bedeutung um, erst in den USA und seit einigen Jahren auch bei uns. Woke sein verheißt nach deren Ansicht nichts Gutes mehr, sondern ist zum Schimpfwort geworden gegen vermeintlich selbstgefällige, weltfremde Moralapostel, die im Namen der Gerechtigkeit alles besser wissen und andere abkanzeln. Wokeness wurde zum politischen Kampfbegriff, der eher liberal und humanistisch eingestellte Bürgerinnen und Bürger provozieren soll.

Ein ähnliches Schicksal traf auch das Wortpaar "politisch korrekt", und gute Menschen ereilte es auch. Warum "Gutmenschen" lächerlich sein sollen, habe ich nie verstanden, seit ich das Wort vor 30 Jahren zum ersten Mal hörte. Was ist schlecht daran, für andere Gutes zu wollen und in ihnen das Gute zu sehen? Aber Gutmenschen sind sich des Spotts anderer sicher. Die gute Nachricht ist: Sie lassen sich nicht davon abhalten, sich für Arme, Flüchtlinge oder Gewaltopfer zu engagieren.

Und was genau stimmt nicht daran, eine Sprache zu finden, die sich richtig anhört? Was ist falsch daran, sich politisch korrekt auszudrücken und Menschen, die nicht so sind wie ich, sprachlich und damit real gleich zu behandeln? Trotzdem ist der Begriff "politisch korrekt" zum Schlagwort geworden, um Gegner:innen zu verunglimpfen und schachmatt zu setzen. Warum eigentlich? Der Grund ist einfach: Weil es geht. Sprache kann andere nicht nur aufrichten. Sie funktioniert umgekehrt auch sehr leicht als politische Waffe, ironisch oder aggressiv. Den Schaden haben Menschen, die gesellschaftlich am Rand stehen.

Positiv gemeinte Begriffe in provozierende Schmähungen umzukehren, ist eine bequeme Lösung, um sich soziale Probleme anderer oder politische Sorgen um die Demokratie vom Hals zu halten. Dieser sprachliche Kniff löst allerdings kein einziges Problem in Sachen Rassismus, Geschlechtergerechtigkeit, LGTBQ-Rechten, Klimagerechtigkeit oder Armut. Aber das soll er aus Sicht derer, die Wörter zu Kampfbegriffen machen, vielleicht auch gar nicht.

Deshalb ist es umso wichtiger: Stay woke. Trotzdem. Bleibe wachsam. Steh weiter für das ein, was dir für andere Menschen wichtig ist. Halte die Augen offen und nimm Unrecht nüchtern und empathisch wahr. Nicht die schlechteste Haltung.

Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.

Ralph Frieling (Jahrgang 1966) ist Pfarrer der Ev. Kirchengemeinde Weslarn in Westfalen. Nach dem Abitur machte er ein Volontariat in Nes Ammim (Israel) und studierte evangelische Theologie in Heidelberg und Melbourne (Australien). Sein Vikariat machte er in Berlin und Brandenburg; dort hat er auch angefangen, regelmäßig Radiosendungen zu machen. Anschließend war er vier Jahre lang Studienleiter in der Evangelischen Akademie Iserlohn. 2004 wechselte er als Pfarrer in die Gemeinde, zuerst im Kirchenkreis Hamm, dann ab 2008 in den Kirchenkreis Soest.Bild: Heike Schröder