Wie Christos verhüllter Reichstag Berlin verzauberte
9. Juni 2025
Wer im Sommer 1995 in Berlin war, wird sich wahrscheinlich sein Leben lang daran erinnern: Der Reichstag - das Herz der deutschen Politik - war verschwunden. Nicht gesprengt, nicht abgerissen, sondern eingepackt. Komplett. In silbernen Stoff gehüllt, mit dicken Seilen verschnürt, fast wie ein Geschenk. Eine verrückte Idee? Vielleicht. Aber auch eine, die Geschichte schrieb.
Hinter dieser spektakulären Aktion steckte ein Künstlerpaar, das die Welt immer wieder mit seinen temporären Mega-Kunstwerken überraschte: Christo und Jeanne-Claude. Ihre Vision vom verpackten Reichstag war groß, kühn - und 23 Jahre in Planung.
2025: Ein besonderes Jubiläumsjahr
Dieses Jahr, 2025, ist für Fans von Christo und Jeanne-Claude ein echtes Jubiläumsjahr: Sie wären beide 90 Jahre alt geworden - sie wurden am selben Tag geboren, am 13. Juni 1935. Christo stammt aus Bulgarien, floh später aus dem kommunistischen Osten nach Westeuropa, erst nach Prag, dann nach Wien, Genf und schließlich Paris. Dort lernte er 1958 Jeanne-Claude kennen - sie war Französin mit Wurzeln in Marokko. Die beiden wurden ein unschlagbares Team. Christo war der Künstler, Jeanne-Claude die Organisatorin - wobei sich beide als gleichwertige Partner verstanden und später alle Projekte auch offiziell gemeinsam signierten.
Ihre Spezialität: riesige, spektakuläre Kunstaktionen im öffentlichen Raum. Sie verpackten Brücken, Gebäude oder ganze Küstenstreifen, spannten gigantische Vorhänge durch Täler oder errichteten kilometerlange Stoffinstallationen. Alles nicht von Dauer, alles selbst finanziert. Keine Werbung, keine Sponsoren - das Geld für die Projekte wurde nur durch den Verkauf von Zeichnungen, Collagen und Entwürfen generiert.
Vor 40 Jahren verhüllte das Paar die berühmte Pont Neuf in Paris, vor 20 Jahren verzauberten sie den New Yorker Central Park mit tausenden Toren, an denen Stoffbahnen flatterten - und vor 30 Jahren bescherten sie der deutschen Hauptstadt einen magischen Sommer, indem sie den Reichstag "verschwinden" ließen.
"Wrapped Reichstag" - langes Warten auf Genehmigung
Die Idee, den Berliner Reichstag zu verhüllen, entstand bereits 1971 - mitten im Kalten Krieg. Der Reichstag stand damals direkt an der Berliner Mauer. Er war ein symbolisches Gebäude, wurde aber nicht wirklich genutzt - der Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland war zu den Planungszeiten noch in Bonn, und der Bundestag ist erst 1999 in das vom Architekten Norman Foster umgebaute Reichstagsgebäude mit seiner charakteristischen Glaskuppel gezogen.
Christo und Jeanne-Claude waren dennoch fasziniert. Für sie war der Reichstag ein Bauwerk mit einer denkwürdigen Geschichte: Vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und das "Dritte Reich", den Zweiten Weltkrieg, die Teilung Deutschlands nach dem Krieg bis hin zur Wiedervereinigung. Immer wieder war dieser Ort Schauplatz bedeutender Momente in der Geschichte Deutschlands.
Christo und Jeanne-Claude wollten dieses Gebäude neu sichtbar machen, indem sie es für kurze Zeit verhüllten.
Aber so ein Kunstwerk braucht Genehmigungen - und die ließen lange auf sich warten. Erst 1994, nach über 20 Jahren Diskussion, stimmte der Bundestag nach einer leidenschaftlichen Debatte endlich zu. Und damit war der Weg frei für eine der eindrucksvollsten Kunstaktionen des Jahrhunderts.
Sommer 1995: Ein silberner Traum mitten in Berlin
Im Juni 1995 war es so weit: Der Reichstag wurde vollständig in silberfarbenen Stoff eingepackt - über 100.000 Quadratmeter Material, dazu 16 Kilometer Seil. Die Verhüllung dauerte mehrere Tage und wurde weltweit verfolgt.
Und dann stand er da - der verhüllte Reichstag: weich, schimmernd, geheimnisvoll. Wie ein Kunstwerk zwischen Wolken, vom 24. Juni bis 7. Juli 1995. Über 5 Millionen Menschen kamen nach Berlin, um dieses Spektakel mit eigenen Augen zu sehen. Es war wie ein riesiges Volksfest: Menschen lagen auf der Wiese, machten Picknick, fotografierten und diskutierten.
Viele Zeitzeugen sagten später, sie hätten den Reichstag noch nie so intensiv wahrgenommen wie in diesen zwei Wochen.
Warum überhaupt verhüllen?
Christo und Jeanne-Claude wollten mit der Verhüllung kein Gebäude verstecken - ganz im Gegenteil. Sie wollten es neu erlebbar machen. Durch das Einpacken fiel alles Oberflächliche weg. Man sah nicht mehr die Details - sondern die Form, die Silhouette, das Volumen.
Und das Wichtigste: Auch dieses Kunstwerk war vergänglich. Nach zwei Wochen war der Zauber vorbei, der Stoff wurde abgebaut, keine Spur blieb zurück. Nur Erinnerungen. Für das Künstlerpaar war gerade diese Kurzlebigkeit ein zentraler Teil ihrer Arbeit.
"Die Schönheit liegt in der Vergänglichkeit", sagten sie oft. Man solle den Moment genießen - weil man weiß, dass er bald vorbei ist.
Politisch? Ja und nein
Obwohl der Reichstag ein politisches Symbol ist, sollte das Kunstwerk selbst nicht politisch sein. Christo und Jeanne-Claude wollten keine Meinung vorgeben. Ihre Kunst sollte offen sein - ein Raum für Gedanken, Gefühle, Deutungen.
Viele Menschen sahen in der Verhüllung trotzdem ein starkes politisches Zeichen: für Veränderung, für Versöhnung, für einen Neuanfang. Gerade im wiedervereinigten Deutschland hatte das eine besondere Wirkung.
Jeanne-Claude starb 2009, Christo 2020. Doch ihre Kunst lebt weiter - in Fotos, Erinnerungen, Ausstellungen und jetzt auch in einem besonderen Jubiläumsjahr.
Die Verhüllung des Reichstags war nicht nur ein Meisterwerk der Logistik und Ästhetik - sondern auch ein Moment der kollektiven Faszination. Sie hat gezeigt, was Kunst im öffentlichen Raum bewirken kann: Sie kann überraschen, verbinden, herausfordern. Und sie kann Menschen einfach zum Staunen bringen.
Oder, wie Christo es einmal sagte: "Unsere Werke gehören niemandem - und gleichzeitig allen."