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Wucher im Armenviertel

Greta Hamann, Rio de Janeiro19. April 2014

Einst regierten hier Drogen und Gewalt - jetzt das Geld. Das Armenviertel Vidigal in Rio de Janeiro wird immer beliebter. Das treibt die Preise in die Höhe und die alteingesessenen Bewohner aus ihrer Heimat.

Straße in der Favela Vidigal (Foto: DW/Greta Hamann)
Bild: DW/Greta Hamann

Ein enger dunkler Durchgang führt zu Glendas "Haus" - so bezeichnet die junge Brasilianerin die 35 Quadratmeter auf denen sie gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem Bruder lebt. Wohnzimmer, Küche, Bad, zwei Schlafzimmer und ein kleiner Eingangsbereich. In keinem Zimmer kann man mehr als zwei Schritte gehen, der Kühlschrank steht halb in der Tür, das Badezimmer dient gleichzeitig als Duschkabine. Der Ausblick aus dem Fenster: Die Wäsche der Nachbarn.

Glenda führt durch die winzigen Räume und strahlt. Sie ist stolz auf ihr Zuhause, fühlt sich wohl. Nur das dreckige Geschirr stört sie heute: "Ich hatte keine Zeit aufzuräumen", entschuldigt sie sich, lächelt weiter und bietet einen Platz auf dem Sofa an.

Glenda Melo lebt von Geburt an in VidigalBild: DW/G. Hamann

Vor drei Monaten saß ein anderer Gast auf dieser Couch in dem engen Wohnzimmer, in das kein Tageslicht fällt, weil sich das vergitterte Fenster zu einem dunklen Innenhof öffnet. Ein Mann aus São Paulo. Er lief durch die Gänge der Favela, klopfte an Haustüren und lugte durch die Gitterstäbe direkt in Glendas Wohnzimmer hinein. 140.000 Reais bot er Glendas Mutter für ihr Haus - Umgerechnet rund 46.000 Euro.

David Beckham im Armenviertel?

Nicht nur der Mann aus São Paulo - auch viele andere wollen in die Favela Vidigal ziehen. Ganz oben, da wo der Ausblick über den berühmten Strand von Ipanema am schönsten ist, wird gerade ein Hotel mit Luxus-Suiten gebaut, Touristen kommen schon seit Jahren in die zahlreichen Hostels in dem Viertel. Sogar David Beckham soll sich Gerüchten in brasilianischen Medien zufolge dort ein Haus gekauft haben. Anfang März war er in Rio de Janeiro, um sich das Grundstück anzuschauen, schreibt das Magazin Extra. Die Meldung wurde von offizieller Seite jedoch nicht bestätigt.

Der Ausblick aus Glendas SchlafzimmerBild: DW/Greta Hamann

Auch Glenda würde gerne in dem Stadtviertel, in dem sie aufgewachsen ist, bleiben. Mit 24 Jahren und einem abgeschlossenen Studium will sie endlich alleine leben, nicht mehr abends die Matratze unter dem Bett herausziehen müssen, um sich neben ihren Bruder zu legen. Doch hier in Vidigal kann sie sich keine eigene Wohnung leisten. "Ich habe keine Wahl, ich muss so lange bei meinen Eltern wohnen bleiben bis die Preise wieder bezahlbar sind."

Einst gefährlich und unbeliebt - heute unbezahlbar

Diese Geschichte scheint unglaublich, wenn man bedenkt, dass sich vor wenigen Jahren kaum einer überhaupt auf "den Hügel" traute. Die Armenviertel, die sich in Rio de Janeiro meist an den Hängen der Stadt hochziehen, waren bereits Stoff für die grausamsten Verfilmungen und sind fast täglich in den Nachrichten. Bevor die Stadt Rio de Janeiro spezielle Polizeieinheiten, die UPPs, in die Favelas schickte, machten die Drogenbosse hier die Gesetze. Seit Januar 2012 sind permanent Polizisten in Vidigal unterwegs und geben den Menschen von außerhalb das Gefühl von Sicherheit.

Vidigal wird wegen seiner lebhaften Kulturszene auch als "der Künstlerhügel" bezeichnetBild: DW/Greta Hamann

In ganz Brasilien leben nach Zahlen des Instituts Data Popular aus São Paulo rund zwölf Millionen Menschen in diesen Armenvierteln. Das sind circa sechs Prozent der 196 Millionen Brasilianer. Würde man alle Favelabewohner zusammennehmen, könnten sie Brasiliens fünftgrößten Bundesstaat bilden, schrieb der Leiter des Instituts Reinato Meirelles in einem Artikel für die Internetzeitung Brasil Post diese Woche.

Bewohner werden an den Stadtrand verdrängt

Mit fast 10.000 Bewohnern ist Vidigal eine relativ kleine Favela. Diese Übersichtlichkeit, der tolle Ausblick und der besondere Charme des "Künstlerhügels", wie er auch genannt wird, machen Vidigal so beliebt.

Traumhafter Ausblick auf den Atlantik - einer der vielen Vorzüge des ViertelsBild: DW/Greta Hamann

"Wir freuen uns über jeden, der nach Vidigal kommt", sagt Marcelo da Silva, Vorsitzender des Bewohnerverbands. Doch mit der Beliebtheit kommen auch die Probleme. "Viele können es sich nicht mehr leisten, hier zu leben, ihre Mieten steigen und sie müssen wegziehen."

Oder sie bekommen so gute Angebote für ihre Grundstücke, dass sie sofort verkaufen. Doch die Immobilienpreise gehen in ganz Rio de Janeiro durch die Decke. Selbst wenn ein Favelabewohner sein Grundstück verkauft, reicht das damit verdiente Geld nur noch für eine Unterkunft am äußersten, noch viel ärmeren, Stadtrand.

"Wir haben Angst, dass unser Viertel seine Identität verliert."

"Wir versuchen den Menschen zu erklären, dass nicht alles im Leben Geld ist", sagt Marcelo da Silva. Deswegen hat der Präsident des Bewohnerverbands eine Diskussionsreihe unter dem Namen "Sprich Vidigal" organisiert. An vier Abenden versammeln sich die Bewohner des Viertels, um über die Probleme, die mit den steigenden Preisen und den neu Zugezogenen einhergehen, zu reden. Zu den ersten beiden Veranstaltungen kamen bereits über 200 Personen.

Marcelo da Silva will die Bewohner von Vidigal über ihre Rechte aufklärenBild: DW/Greta Hamann

Gentrifizierung nennen Wissenschaftler diesen Prozess: Wohlhabende verdrängen alteingesessene und ärmere Menschen aus ihrem Stadtviertel. Es ist ein altes Phänomen und geschieht in Städten auf der ganzen Welt: Berlin, New York, London und jetzt auch Rio de Janeiro.
Doch neben den hohen Preisen treibt Marcelo noch etwas anderes um: "Wir haben Angst, dass unser Viertel seine Identität verliert."

Teure Luxusvilla mitten in der Favela

Die Gentrifizierung, sie ist schon lange in Vidigal angekommen. Auf der Straße, die direkt vor Glendas Haustür beginnt, kann man sie besonders gut sehen. Man läuft vorbei an einem ausgebrannten VW-Käfer, die Hauswände alle unverputzt. Einziger Schattenspender sind die unzähligen Kabel, die unorganisiert von einem Mast zum nächsten führen. Doch plötzlich tut sich mitten in diesem Straßenbild ein riesiges Haus mit gläsernem Balkon und blendend weißen Wänden auf. Läuft man die Straße weiter runter, versperren eine Schranke und hohe Mauern, die um die großen teuren Häuser führen, die Sicht auf das Meer.

Zwischen unverputzten Häusern steht eine LuxusvillaBild: DW/G. Hamann

Es entsteht eine Parallelgesellschaft mitten im Armenviertel. Als bestes Beispiel fallen Glenda, die seit 24 Jahren in Vidigal lebt, die Partys ein. Am Wochenende verwandelt Vidigal sich in ein regelrechtes Ausgehviertel. Touristen und Leute mit mehr Geld kommen hoch auf den Hügel um zu feiern. Glenda und ihre Freunde gehen dort jedoch nicht hin: "Der Eintritt für die Partys ist viel zu teuer, das kann sich von uns keiner leisten". Außerdem kenne sie dort niemanden, weil fast nur Leute von außerhalb kämen, fügt sie hinzu.

Rio de Janeiro boomt. Die WM steht vor der Tür und soll den Brasilianern viele Vorteile bringen - so das Versprechen der Politiker. Glenda hat davon noch nicht so viel mitbekommen.
Zuhause informiert sie sich über das Thema Immobilienspekulation und ist zuversichtlich für die Zukunft. "Das vergeht wieder", erklärt sie. "Es kann zwar einige Jahre dauern, aber ich kann warten."

Dieser Beitrag wurde im Rahmen einer Reportage-Reise erstellt, die das EU-Förderprojekt "Beyound Your World" und die DW-Akademie ermöglichten.

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