Wunder: Ein Phänomen des Abendlandes
3. Oktober 2011
An der Decke schweben 60 Zauberstäbe, auf einem Bildschirm laufen Ausschnitte aus Kinderfilmen, in einer Vitrine liegt ein dickes goldenes Hexenbuch. Klar, in dieser Kammer geht es um Magie. Doch eigentlich dürfte man das alles gar nicht sehen. Es sei denn man ist kleiner als 1,40 Meter und jünger als 13 Jahre. Ansonsten muss man sich durch eine schmale und niedrige Öffnung zwängen, um diese Exponate zu sehen. Denn diese Kammer ist eigentlich Kindern vorbehalten. Eltern müssen draußen bleiben.
"So kehren wir die Hierarchie des Wissens bewusst um, und die Kinder bekommen einen Wissensvorsprung vor den Erwachsenen", sagt Nicola Lepp, die die Kinderspur in den Hamburger Deichtorhallen entwickelt hat. In der dort gezeigten Ausstellung "Wunder" werden Kinder nicht im pädagogischen Begleitprogramm geparkt, sondern bekommen ihre eigene Ausstellung in der Ausstellung.
Wunder ist eine Öffnung in die Welt
Gerade beim Thema "Wunder" liege dieser Ansatz nahe, erklärt Lepp. Schließlich werde Kindern immer eine besondere Nähe oder auch Naivität gegenüber Wundern zugesprochen. Ohne eine gewisse Offenheit gegenüber dem Wundersamen, dem Fremden und dem Neuen, aber auch der Fähigkeit zu Staunen, könnten sich Erwachsene dem Thema der Ausstellung kaum nähern, sagt Kurator Daniel Tyradellis. In der einfachsten Definition stünde das Wunder für die Öffnung in der Welt, als ein Einfalltor für Utopisches, Göttliches, Innovatives.
"Die Ausstellung soll Wissen vermitteln, was das Wunder im Abendland war und ist", sagt Tyradellis. So zeigt die Ausstellung alles, was irgendwie mit Wundern zu tun hat. Sie begibt sich auf die Spuren des Wunders, allerdings nicht nur in der Religion, sondern auch in der Kunst und der Wissenschaft sowie Technik. Anhand ganz unterschiedlicher Beispiele vom 4. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Dafür wurden mehr als 50 Exponate zusammengetragen. Darunter sind moderne Werke bedeutender, berühmter Künstler, wie Joseph Beuys, Martin Kippenberger oder Albert Oehlen. Aber auch Heiligen-Statuen, Reliquien oder Votivgaben sowie Momentaufnahmen von Naturschauspielen bis hin zu magischen Gegenständen, wie etwa den Zauberstäben.
Geisterhände und subatomare Teilchen
Hier trifft Wunderliches auf Wissenschaft: So kann man in einer Glasvitrine die Handabgüsse von Geistern sehen, die angeblich 1921 während einer Séance erschienen. "Die waren so nett und stülpten ihre Hände in ein vorbereitetes Gefäß, damit man danach die Abgüsse machen konnte", erklärt Tyradellis. Auch wenn er selbst nicht daran glaubt, interessiert ihn aber, warum man sich so sicher ist, dass es keine Geister gibt.
Und auch der Besucher wird zum Nachdenken angeregt. Denn gleich gegenüber der Vitrine, kann er durch einen kleinen Schlitz in eine Nebelkammer schauen. "Hier sieht man permanent durch die Deichtorhallen flitzende subatomare Teilchen im Alpha und Beta-Bereich", beschreibt der Kurator. Niemand würde hier an der Echtheit zweifeln, schließlich sei dies belegte Wissenschaft. Doch die Ausstellung will den Blick des Besuchers verunsichern, will ihn öffnen.
Wunder im Christentum
Aufgeteilt in vier Themenbereiche ist eine Entdeckungsreise durch die Welt der Wunder entstanden. Wobei sich die Inhalte immer wieder ergänzen und auch nahtlos ineinander übergehen. "Wunder sind seltene Ereignisse und man wähnt sie eher im Christentum, insbesondere im katholischen Glauben, als etwas, das als Zeichen Gottes gewertet wird", sagt der Kurator. Aber es gebe auch technische Wunder, der Begriff werde sehr vielfältig verwendet. Auch wenn es in anderen Kulturen ähnliche Begrifflichkeiten gebe, unterschieden sich diese Wunder deutlich von denen im Abendland. "Wunder in polytheistischen Kulturen sind etwa alltägliche Phänomene oder in anderen monotheistischen Kulturen, etwa dem Judentum oder Islam gibt es Wunder einfach nicht."
Wie wichtig das Wunder hingegen für Christen ist, wird in einem Teil der Ausstellung verdeutlicht. So zeigt die Video-Arbeit von Johanna und Helmut Kandl verschiedene Marien-Wallfahrtsorte, Prozessionen und Pilger. Auch wenn auf den ersten Blick auf die dort stehenden Fernseh-Monitore das Verhalten der Menschen vielen zunächst seltsam erscheinen mag, so spüre man doch bei längerem Betrachten eine besondere Kraft. So erging es zumindest Tyradellis. "Hier gibt es eine Solidarität, eine Gemeinschaft, ein Gefühl des Zusammenhaltes, das ich aus meinem Alltagsleben gar nicht kenne."
Wunder der modernen Kunst
Christliche Wunder, wie die weinende Madonna von Syrakus - zu sehen in einer Filmaufnahme, die im Vatikan als Wunder-Beweis aufgehoben wird - und das nicht weniger spannende, berühmte Turiner Grabtuch mit dem Gesicht von Jesus, können hier bestaunt werden. Von solch kulturgeschichtlichen Stücken bis hin zu künstlerischen und wissenschaftlichen Werken, zieht sich die Spur der weltweiten Wunder durch die Hamburger Deichtorhalle.
Neben christlichen Wundern, magischen und wissenschaftlichen Gegenständen nehmen moderne Kunstwerke viel Raum ein. Etwa in dem Bereich, der sich mit dem wundersam Fremden auseinandersetzt. Ein Blick darauf, wie man im Abendland damit umging oder auch heute noch umgeht. Dabei wird auch der Ursprung der heutigen Museen erklärt: Die Wunderkammer. Ab der Spätrenaissance konnten Menschen dort Unerklärliches und Fremdes aus der Natur und Wissenschaft bestaunen.
Auch Erwachsene lernen Staunen
Fiona Tan nutzt die Idee der Wunderkammer für ihre Videoinstallation "Disorient". Darin setzt sich die Künstlerin mit der Wahrnehmung fremder Welten und Kulturen auseinander, unterlegt wird die filmische Fahrt durch eine Wunderkammer durch den gesprochenen Text aus Marco Polos Buch "Wunder der Welt". Er berichtet über seine Reise durch den Orient. Der etwa 700 Jahre alte Text passt erstaunlich gut zu Bildern aus heutiger Zeit, die auf der Wand gegenüber gezeigt werden. Am Ende der Reise durch die Welt der Wunder kann auch der Erwachsene wieder richtig Staunen.
Autor: Janine Albrecht
Redaktion: Jochen Kürten