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Politik

Wut und Angst in Nordnigeria

Adrian Kriesch
26. Februar 2018

Noch fehlt jede Spur von den 110 Schülerinnen, die von der islamistischen Terrormiliz Boko Haram vor einer Woche entführt wurden. Ein Alptraum für ihre Angehörigen. DW-Korrespondent Adrian Kriesch hat sie getroffen.

Das Schild der Mädchenschule in Dapchi
Aus dieser Schule wurden die 110 Mädchen entführtBild: DW/A. Kriesch

Die Schreie aus dem Haus von Alhaji Deri Kadau hört man bis auf die staubige Straße. Verwandte haben sich versammelt, um der Familie Mut zu machen, aber die Emotionen kochen hoch. Kleine Kinder und Erwachsene wimmern vor Verzweiflung. "Gott, bitte hilf uns", schreit eine verzweifelte Tante. Vater Alhaji Deri Kadau versucht sie zu beruhigen. Vergebens.

"Boko Haram hat die Mädchen entführt", sagt Kadau. Auch seine 17-jährige Tochter Aisha. In einer Nachbarsiedlung hätten Viehhirten einen Truck voller Mädchen gesehen, berichtet der Vater. "Einige haben um Hilfe geschrien, andere geweint." Trotzdem dauerte es Tage, bis die Regierung bestätigt: Die Terrormiliz hat 110 Schülerinnen aus der Sekundarschule in Dapchi in ihre Gewalt gebracht.

Wut auf Regierung und Sicherheitskräfte

Wie viele Eltern ist Kadau wütend auf die Regierung und das Versagen des Sicherheitsapparates. Vor drei Wochen sei das Militär aus dem Ort im Nordosten Nigerias abgezogen worden. Nur wenige Stunden vor dem Angriff habe der lokale Polizeichef plötzlich den Ort verlassen, so Kadau.

Alhaji Deri Kadau sorgt sich um seine 17-jährige TochterBild: DW/A. Kriesch

Der Frust entlud sich letzten Donnerstag, als Ibrahim Gaidam, Gouverneur des Bundesstaates Yobe, Dapchi besuchte. Nachdem er vorab in einer Pressemitteilung verkündete, dass einige Mädchen vom Militär gerettet worden seien, erklärte er beim Besuch das Gegenteil. Die Eltern waren entsetzt. Einige brachen vor Ort zusammen, andere machten ihrem Unmut lautstark Luft. Der Konvoi des Gouverneurs wurde bei der Abreise mit Steinen beworfen.

Auch der Bildungskommissar des Bundesstaates, Alhaji Mohammed Lamin, bekam den Ärger zu spüren. Eine Scheibe an seinem Auto ging ebenfalls zu Bruch. Lamin ist noch immer wütend, die Reaktion kann er nicht nachvollziehen. Und überhaupt: die Regierung gebe ihr Bestes. Eingeständnisse, dass die Sicherheitskräfte versagt hätten: Fehlanzeige. "Wir haben die Schule eingezäunt, auch das Internat. Was sollen wir denn noch machen?", fragt Lamin. "Wir können doch nicht für jede Schule hier Soldaten abstellen. Es gibt schon Polizei-Patrouillen im Umfeld der Schulen."

Schwache staatliche Institutionen

Die nigerianische Polizei hat weniger als 400.000 Beamte, bei einer Gesamtbevölkerung von mehr als 180 Millionen. Fast die Hälfte der Polizisten ist für den Schutz wichtiger Persönlichkeiten abgestellt: Politiker, Geschäftsleute, Menschen mit viel Geld. Kritiker fordern mehr Polizisten – und mehr Effizienz im Polizei-Apparat. Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass die Polizei als die korrupteste Institution im Land gesehen wird. 69 Prozent der Befragten sagen, alle oder die meisten Polizisten seien korrupt.

Die Wut auf die Sicherheitskräfte wächstBild: Getty Images/AFP/S. Heunis

Das Militär ist ebenfalls offensichtlich überfordert, muss an mehreren Orten im Land gleichzeitig aktiv sein: Boko Haram im Nord-Osten, Öl-Diebe und kriminelle Banden im Niger-Delta, zunehmendeKonflikte zwischen Farmern und Viehhirten im Zentrum des Landes. Bereits 2016 kündigte der Armee-Chef an, die Zahl der Soldaten in den nächsten Jahren auf 200.000 zu verdoppeln. Doch trotz Fortschritten im Kampf gegen Boko Haram: auch im achten Jahr des Aufstandes ist die Gruppe noch nicht besiegt, auch wenn das Militär dies mehrfach behauptete.

Auch zusätzliche Initiativen geraten nach dem Dapchi-Angriff in die Kritik. Kurz nach den Entführungen von mehr als 200 Mädchen in Chibok 2014 wurde die "Safe School Initiative" gegründet. Die nigerianische Regierung hatte für das Projekt 10 Millionen Dollar zugesagt, weitere finanzielle Unterstützung kam von Geschäftsleuten, den Vereinten Nationen und verschiedenen Geberländern. "Die Regierung muss offenlegen, wofür das Geld ausgegeben wurde", sagt Sicherheitsexperte Kabiru Adamu. Er fordert, dass die Liste der 500 Schulen veröffentlich wird, die mit dem Geld unterstützt werden sollten.

Die 17jährige Aisha gehört zu den EntführtenBild: DW/A. Kriesch

Mehr als 10 Millionen Kinder gehen nicht zur Schule

Die mangelnde Sicherheit in der Region hat fatale Auswirkungen auf die Bildung. 10.5 Millionen Kinder in Nigeria gehen nicht zur Schule. 60 Prozent davon kommen aus dem Norden, schätzt das Un-Kinderhilfswerk UNICEF. Die Zahlen könnten nach dem jüngsten Angriff erneut steigen. Hafsat, die 14-jährige Schwester der verschwundenen Aisha erzählt mit zitternder Stimme und unter Tränen, dass sie nicht mehr in die Schule gehen will. Sie war gemeinsam mit ihrer Schwester auf dem Gelände, als der Angriff begann. Auf der Flucht verloren sich die beiden aus den Augen.  Die Angst und das Trauma werden bleiben.

Der Unterricht in Dapchi wurde vorerst für eine Woche ausgesetzt. Der Bildungskommissar vermutet, dass die Schule noch länger geschlossen bleiben wird. Doch selbst wenn sie wieder eröffnet und seine Tochter Aisha zurückkehrt, Alhaji Deri Kadau ist sich nicht sicher, ob er seine Kinder wieder in die Schule schicken soll: "Der Regierung ist die Sicherheit unserer Kinder offensichtlich nicht wichtig."