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Politik

Xi Jinping und der "Chinesische Traum"

7. Mai 2018

Der Auftakt der DW-Serie "Chinas Aufstieg" handelt vom "Chinesischen Traum". Der weist weit in die Zukunft, prägt die Gegenwart und wird gespeist aus der Vergangenheit. Über eine von Xi verordnete kollektive Vision.

Buch „China regieren“ von Chinas Staatspräsident Xi Jinping
Bild: DW

Der Rest der Welt reibt sich verwundert die Augen. In nur knapp drei Jahrzehnten ist China aufgestiegen: Vom bitterarmen Entwicklungsland zur globalen Wirtschaftsmacht. Inzwischen setzt China an, sich zur Weltmacht aufzuschwingen. Spätestens jetzt mischen sich Befürchtungen in die Bewunderung über die Aufbauleistung.

Chinesen aber - und speziell die politische Klasse in Peking - sehen in dem Erstarken ihres Landes vor allem die Korrektur einer historischen Anomalie. Propagandistisch wird diese Haltung bedient durch Xi Jinpings "Chinesischen Traum". Seit seinem Amtsantritt 2012 verspricht Chinas Staats- und Parteichef dem chinesischen Volk die Rückkehr zur Größe vergangener Dynastien. Damit knüpft Xi gleich zweimal an das ausgeprägte Geschichtsbewusstsein der Chinesen an.

Zum einen verstehen sich auch moderne Chinesen als Erben einer Jahrtausende alten Zivilisation, die bis ins 16. Jahrhundert hinein in Kultur, Wissenschaft, Technik, Verwaltung weltweit führend war. China - das "Land der Mitte" wie es heute noch auf Chinesisch heißt - lag in dieser Idealvorstellung im Zentrum der Welt, umgeben von Barbaren, die angezogen von der Leuchtkraft der chinesischen Zivilisation willig Tribut zollten. 

"Jahrhundert der Schande"

Zum anderen hebt sich vor diesem Hintergrund das sogenannte "Jahrhundert der Schande" um so stärker ab. Der klar benannte Anfang: Die von England 1842 mit Waffengewalt erzwungene Öffnung chinesischer Häfen für britisches Opium. Im ersten der sogenannten "ungleichen Verträge" wurde China damals unter anderem auch gezwungen, Hongkong an England abzutreten. Und ein vorläufiges Ende hat diese Irrung der Geschichte offiziell und propagandistisch auch: Die Gründung der Volksrepublik China 1949 durch die Kommunistische Partei. 

Der Vertrag von Nanjing markierte 1842 das Ende des ersten Opiumkrieges - und den Beginn des "Jahrhunderts der Schande"Bild: picture-alliance/CPA Media Co. Ltd

Dieses "Jahrhundert der Schande" bildet den Gegenpol zum Aufstieg Chinas. Wer weiß schon, dass Chinas Anteil an der Weltwirtschaftsleistung um 1820 noch bei über 30 Prozent lag? Nach innerchinesischen Rebellionen, kolonialer Ausbeutung, nach Staatszerfall, japanischer Besatzung und Bürgerkrieg aber war dieser Anteil Anfang der 1950er Jahre auf gerade mal fünf Prozent gesunken. 

Der Phantomschmerz über den Verlust imperialer Größe wird wachgehalten im kollektiven Gedächtnis: Geschichtsbücher, Fernsehserien, Zeitungsartikel beschwören immer wieder die Demütigung der chinesischen Nation durch ausländische Mächte herauf, den Niedergang und das Elend. Diese Erinnerungskultur hat den Boden bereitet für die Massenwirksamkeit von Xi Jinpings "Chinesischem Traum". Dabei ist er als von oben verkündete kollektive Vision das genaue Gegenteil des "amerikanischen Traums" von der Verwirklichung individuellen Glücks. 

"Echte Weltmacht bis 2049"

Die Pläne für die "Große Wiedergeburt der chinesischen Nation" reichen bis ins Jahr 2049: Zum 100. Geburtstag der Volksrepublik soll China wieder eine wirkliche Weltmacht sein. Hier scheint sich zu bestätigen: Je hehrer die verkündeten Ziele und je weiter in die Zukunft gerückt ihre Erfüllung, um so größer die Opfer, die man den Menschen abverlangen kann. Wo es um nichts Geringeres geht als die "Wiedergeburt der chinesischen Nation", kann nach Pekinger Lesart auf bürgerliche Freiheiten oder auch umständliche rechtsstaatliche Prozesse keine Rücksicht genommen werden. Andersdenkende,  Menschenrechtsaktivisten, sogar ihre Anwälte landen im Gefängnis. Was zuvor an Freiheiten erkämpft worden war – auch in den Medien, wird zurückgeschraubt. 

Den 2017 verstorbenen Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo hat China sogar bis in den Tod verfolgtBild: picture-alliance/AP Photo/Kin Cheung

Die Vision vom "Chinesischen Traum" ist so vage und zugleich so umfassend, dass unterschiedlichste Botschaften unter ihrem Dach Platz haben. Wer die Deutungshoheit über die Inhalte der Formel hat, kann nahezu alles als  Element zur Realisierung des "Chinesischen Traums" definieren: Als Xi Jinping im April den Drei-Schluchten-Damm besuchte, war es zum Beispiel die Fähigkeit zu selbstständiger technischer Entwicklung. Als Xi Mitte März mit hochrangigen Militärs zusammentraf, war es die stärkere Integration von ziviler und militärischer Sphäre. Immer wieder genannt: Einigkeit und generell die Entwicklung von Stärke. 

In seiner Vieldeutigkeit eignet sich der "Chinesische Traum" auch als Werkzeug für das Schüren des seit gut zwei Jahrzehnten immer stärker ausgeprägten chinesischen Nationalismus. Der ist wichtig als Legitimationsquelle für die Herrschaft der Kommunistischen Partei. Denn ideologisch ist Chinas KP ausgehöhlt: Als Organisator eines - wenn auch hocheffektiven - Staatskapitalismus. Mit Funktionären und Beamten als Nutznießern, den beispiellosen Anti-Korruptionskampagnen zum Trotz. 

Chinas robuste Positionierung etwa im Inselstreit mit Japan im Ostchinesischen Meer, das konfliktträchtige Aufschütten künstlicher Inseln im Südchinesischen Meer bedient da auch die bewusst geschürten nationalistischen Erwartungen des heimischen Publikums. 

Mit der Seidenstraße in die Mitte der Welt

Zugleich passt aber auch Xi Jinpings Großprojekt unter das Dach des "Chinesischen Traumes": Die Seidenstraßen-Initiative. Mit immensen Mitteln werden Infrastruktur und Verkehrsprojekte in Chinas näherer und fernerer Umgebung angestoßen. China ist mit diesem ehrgeizigen Projekt derzeit das einzige Land der Welt, dass eine globale Vision verfolgt. Und es ist sicher kein Zufall, dass auch die Seidenstraßen-Initiative schon sprachlich an Zeiten früheren Glanzes anknüpft.

Mit seiner geschickten Investitionspolitik kann China wirtschaftliche Stärke mehr und mehr auch in politischen Einfluss ummünzen. Die neuen Verkehrsverbindungen, die neuen Wirtschaftsverbindungen werden ganz natürlich ihren Anteil haben an der Entfaltung des "Chinesischen Traums". Indem sie Chinas Rolle als Gravitationszentrum Eurasiens stärken. Und wieder zum Land der Mitte machen. Dass diese Mitte dann in die Welt hinausstrahlen soll, versteht sich von selbst. Auf seiner Parteitagsrede im vergangenen Herbst hat Xi Jinping Chinas Entwicklungsmodell des "Sozialismus chinesischer Prägung" der Welt als Vorbild empfohlen. Und Anfang des Jahres verstieg sich die "Volkszeitung", immerhin offizielles Zentralorgan von Chinas KP, zu einer sehr grundsätzlichen Erklärung. Darin war die Rede von einem Verschmelzen des "Chinesischen Traumes" mit dem "Traum der ganzen Welt". 
 

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