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Vom Töten ohne Angst: Der Roman "Siegerin"

Sarah Judith Hofmann
18. Februar 2021

Der Autor des Erfolgsromans "Monster" sorgt in Israel erneut für eine Kontroverse. In Sarids neuem Buch lehrt eine Militärpsychologin Soldaten das Töten.

Palästinensische Protestierende flüchten vor Tränengas
Israelisches Tränengas gegen Palästinenser-Proteste zur Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem 2018Bild: Getty Images/AFP/M. Abed

Es gibt eine Szene in diesem Roman, die könnte wohl kaum israelischer sein. Mendi, ein in die Jahre gekommener Künstler, sitzt in einem Moschaw - einer Art Kibbuz - und schält Orangen, die er selbst geerntet hat. Im Moschaw ist es ruhig, nur Abigail, seine Psychotherapeutin, ist da. Eigentlich ein romantisches Bild. Doch die beiden plaudern nicht einfach so im Obstgarten. Nein, der Künstler erzählt von den Menschen, die er einst getötet hat und die nun in seinen Träumen zu ihm kommen, um sich an ihm zu rächen. Er berichtet - Orangenscheibe für Orangenscheibe - "wie er getötet hatte, mit dem Messer, durch Erdrosseln und mit der Pistole, immer lautlos auf Armeslänge".

Yishai Sarids neuer Roman "Siegerin" dringt tief ein in die Psyche von Soldatinnen und Soldaten und damit in die Psyche der israelischen Gesellschaft. Denn in Israel muss praktisch jeder und jede Wehrdienst leisten - Männer und Frauen, etwa zwei bis drei Jahre. Nur ultraorthodoxe und arabische Israelis sind von dieser Pflicht befreit. Seit der Gründung des Staates - und davor - wurden viele Kriege gekämpft, gegen Ägypten, Syrien, den Libanon. Und immer wieder: der Konflikt mit den Palästinensern im besetzten Westjordanland und im Gazastreifen.

Psychologen sind Teil moderner Armeen

"Das ist die Realität", sagt Yishai Sarid im DW-Gespräch. "Israel rekrutiert junge Leute, 18 Jahre alt, fast noch Kinder, und manche von ihnen müssen in Kampfeinheiten von Zeit zu Zeit töten. Sie wachsen auf, wie auch meine Kinder aufwachsen. Sie lieben ihr Smartphone und töten kein Hühnchen mit der Hand, sondern kaufen es sauber abgepackt im Supermarkt. Man muss ihnen das Töten erst beibringen. Das ist faszinierend und tragisch zugleich."

Hat keine Berührungsängste vor heiklen Themen: Yishai SaridBild: Katarina Ivanisevic

Genau das ist der Job von Abigail, der Protagonistin des Romans. Als Psychologin der israelischen Streitkräfte hält sie Vorträge vor Offizieren, wird aber auch unmittelbar an die Frontlinien geschickt, um dort mit jungen Soldaten zu sprechen, die traumatisiert sind von dem, was sie erlebt haben und doch häufig schon am nächsten Tag zurück ins Gefecht müssen.

"Psychologie ist heutzutage ein wichtiger Bestandteil von Armeen. Nicht nur in Israel. Jungen Leuten wird beigebracht, auf dem Schlachtfeld erfolgreich zu agieren, den Feind zu töten und nicht getötet zu werden", sagt Yishai Sarid. Er war selbst bei der Armee und wurde sogar Offizier beim Militärgeheimdienst. Für seinen Roman hat er zudem gründlich recherchiert, etliche Studien über Traumata in der israelischen und US-amerikanischen Armee gelesen, mit Militärpsychologen gesprochen.

"Natural born killers"

"Den meisten Menschen fällt es schwer zu töten. Sie können es einfach nicht. Das ist keine Frage von Moral, sondern des Instinkts, besonders wenn es um den Nahkampf geht. Nur eine kleine Minderheit sind 'natural born killers'. Man muss Menschen darin trainieren zu töten."

Mendi, der Künstler und ehemalige Soldat einer Eliteeinheit im Roman, glaubt, einer dieser "natural born killers" zu sein. Als junger Mann wird er auf Terroristen angesetzt, dringt nachts in ihre Häuser ein und tötet sie. Das Töten habe ihm Spaß gemacht, erzählt er Abigail bei einem der Treffen. Er habe geradezu eine sexuelle Lust dabei empfunden. "Ich wollte nicht scheinheilig sein", sagt Sarid. "Es ist für jeden ein Trauma. Und doch gibt es Menschen, die Krieg mögen, denen es gefällt zu töten. Krieg bedeutet jegliche Grenzen von Menschlichkeit zu sprengen. Manchen macht das Spaß. Sie agieren kaltblütig. Im normalen Leben wären sie keine Mörder, aber der Krieg kommt ihrem Charakter entgegen."

Bild: Kein & Aber

Frauen sind dabei keine Ausnahme. Ein Teil des israelischen Feminismus, so Sarid, sei es zu zeigen, dass Frauen genauso töten können wie Männer. Auch wenn sie bis heute nicht zu allen Kampfeinheiten zugelassen sind. Eine von Abigails Patientinnen ist Hubschrauberpilotin. Sie plagt die Angst davor, abgeschossen und gekidnappt zu werden. Die Psychologin zeigt bei ihr einen noch größeren Ehrgeiz, ihr die Angst zu nehmen, als bei ihren männlichen Kollegen - und hat Erfolg.

Abigail agiert den gesamten Roman über rational, ja sogar kaltblütig. Bei einem ihrer Vorträge sagt sie zu einem jungen Offizier: "(...) ich weiß, dass die, die du umgebracht hast, Scheißkerle waren, die es verdient hatten."

Zivile Opfer kommen im Roman nicht vor

Sätze wie diese waren es wohl, weswegen Yishai Sarid für sein neues Buch Kritik von der politischen Linken einstecken muss. Dabei zählt er sonst selbst zu Israels "linken" Intellektuellen, spricht sich für eine Zweistaatenlösung im Konflikt mit den Palästinensern aus und wirft Premierminister Benjamin Netanjahu vor, Angst zu schüren, obwohl Israel längst aus einer Position der Stärke gegenüber feindlichen Nachbarstaaten agiere.

"Abigail liebt Kriege und ermutigt Menschen darin zu töten", sagt der Autor. "Ich kann nicht einfach sagen: 'Oh, wie schrecklich ist es doch, Menschen zu töten, das sollte nicht passieren!' Wir tun es schließlich. Wir töten und werden getötet. Also sollte man seine Protagonistin nicht aburteilen. Ich habe mich für eine Person entschieden, die eine sehr aktive Rolle im Krieg spielt. Und ich mag sie."

In der Tat kann man dem Roman vorwerfen, dass kein einziger Vorfall geschildert wird, in dem auch zivile Opfer genannt werden. Stets sind es Terroristen, die dem Soldaten keine andere Wahl lassen, als zu töten oder selbst getötet zu werden.

Sarids voriger Roman "Monster" las sich als bitterböse Abrechnung mit der israelischen Erinnerungskultur an den Holocaust. Anstatt sich an den deutschen Tätern abzuarbeiten, richte sich der Hass israelischer Jugendlicher gegen Polen und gegen Araber, so Sarid im DW-Interview zu "Monster".

Das Trauma des Holocaust schwingt mit

In seinem neuen Roman erwähnt der Autor das israelische Trauma des Holocaust mit keinem Wort. Und doch, so Sarid, schwinge es natürlich im Unterbewusstsein der Israelis immer mit. "Dies ist die Essenz des Zionismus: Juden zu erziehen, die sich - anders als im Holocaust - selbst verteidigen können. Heute sind wir stark, keineswegs hilflos, aber unsere Psyche ist immer noch die des schwachen, geschlagenen Kindes, das all seine Kraft nutzen muss, um nicht erneut drangsaliert zu werden."

Die meisten "Operationen", die in dem Buch angesprochen werden, sind allgemeine Verweise auf Schlachten und Kriege. Doch es gibt auch eine Passage, die ganz offensichtlich auf den Mai 2018 verweist, als die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegt wurde. In jener Zeit liefen Palästinenser in Gaza regelmäßig auf den Grenzzaun zu - einige von ihnen mit Brandsätzen oder Messern in der Hand. Dutzende wurden von israelischen Scharfschützen erschossen.

"Es war furchtbar", erinnert sich Sarid. "Ich schreibe nicht aus der Perspektive eines Fremden. Ich lebe hier, ich war selbst in der Armee, meine älteste Tochter ist jetzt Soldatin. Ich kann nicht wie jemand aus Europa oder vom Weltraum schreiben. Ich bin Teil des Ganzen. Es fühlt sich beinah so an, als hätte ich geschossen. Als Schriftsteller muss ich diese Erfahrung verarbeiten." 

Bei diesem Einsatz bleibt Abigail nicht im Hintergrund. Sie begleitet die Scharfschützen zu ihren Posten, schaut schließlich mit durch das Zielfernrohr, legt ihren Finger auf den des Offiziers - und drückt ab.

Yishai Sarid: Siegerin, Kein & Aber, Zürich 2021, 240 Seiten. Originaltitel: Menatzachat.

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