"Yolocaust" greift respektlose Mahnmal-Besucher an
19. Januar 2017Johlend nehmen die Teenager Anlauf und schlittern mit Karacho an den Betonstelen vorbei. In den zahlreichen, wellenartigen Gängen hat sich an diesem Januartag eine spiegelglatte Eisschicht gebildet. Am Ende des Ganges hat sich - vorsichtig tapsend - eine Gruppe Spanier aufgestellt und posiert ausgelassen für ihr Smartphone am Selfie-Stick. Die britischen Touristen Kate und Jamie hingegen gehen still und behutsam durch den Betonstelen-Wald. "Das ist ein sehr beeindruckendes Denkmal", meint Jamie. Seine Freundin hat ihn zwar gerade fotografiert - fürs Foto gelächelt habe er aber nicht. "Dieser Ort hier ist ein Grab."
Die mehr als 2.000 Stelen als Massengrab? Das findet offensichtlich auch der Satiriker Shahak Shapira. Er ist es leid, dass Touristen dem Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas nicht den nötigen Respekt zollen und stattdessen über die Stelen hüpfen, auf ihnen picknicken oder sich auf der glatten Betonfläche in Yoga üben. Besonders geschmacklos kann es werden, wenn die Besucher dann noch ihre Smartphones für ein Mahnmal-Selfie auspacken, in die Kameras grinsen und das Foto beim Online-Dienst Instagram stolz mit der Bildunterschrift "Jumping on dead Jews @ Holocaust Memorial" versehen.
Der 28-jährige Shapira, dessen Großvater den Holocaust überlebte, wehrt sich nun gegen die pietätlosen Schnappschüsse - radikal und kontrovers. Der Art Director und Buchautor sammelte die Selfies rund um das Mahnmal im Netz auf, die frei zugänglich auf Facebook, Twitter und Instagram kursieren und dort auch von weiteren Nutzern mit "Gefällt mir"-Angaben bestätigt werden. Anschließend mixte er sie mit historischen Fotos von Konzentrationslagern und Massengräbern mit ausgemergelten Leichen. Mit Vorher-nachher-Effekt: Bewegt man die Maus beispielsweise über ein Foto einer jungen Frau, angelehnt an eine Stele, sitzt sie plötzlich auf einem Leichenhaufen.
Mittagessen am Stelenfeld
Yolocaust heißt Shapiras mahnendes Projekt, das zeigen soll, was die eigentliche Intention der Betonstelen sein sollte: Das Gedenken an sechs Millionen durch die Nationalsozialisten ermordete Juden. Das Wort ist eine Kombination aus dem viel verwendeten Hashtag YOLO, eine Abkürzung für "You only live once" (Man lebt nur einmal), und Holocaust. Der "Berliner Morgenpost" sagte der aus Israel stammende Shapira, er hoffe, dank seines Projektes würden sich die Besucher mehr mit der eigentlichen Bedeutung des Mahnmals beschäftigen. 2015 wurde der Satiriker erstmals bekannt, als er antisemitische Parolen in einer U-Bahn filmte und dabei von der Meute angegriffen wurde. Kurz darauf veröffentlichte er das Buch "Das wird man ja wohl noch schreiben dürfen! Wie ich der deutscheste Jude der Welt wurde".
Der britische Tourist Jamie findet "Yolocaust" zwar drastisch, aber notwendig. "Manche Touristen springen hier von Stele zu Stele. Das würde ich niemals tun." Dabei ist die Frage nach angemessenen Verhalten auf den 19.000 Quadratmetern so alt wie das Mahnmal selbst. 2005 eröffnet wurde immer wieder öffentlich darüber diskutiert, wie und ob vorzuschreiben sei, wie Touristen sich dem Ort nähern. In den Boden eingelassene Hinweistafeln verbieten zumindest das Trinken von Alkohol, das Mitführen von Hunden - und auch das Springen über Stelen. US-Architekt Peter Eisenman, der das Stelenfeld für Berlin entwarf, findet weitere Verbote überflüssig. Im Interview mit der "Berliner Morgenpost" antwortete er auf die Frage, ob man auf den Stelen picknicken dürfe: "Warum sollen sie am Mahnmal nichts essen? Erst wenn diese Vorbehalte überwunden sind, und man sagt, komm, lass uns Mittag essen am Stelenfeld, ist etwas erreicht."
Die israelische Berlin-Touristin Yaim kann das nicht nachvollziehen. Mehr noch: Sie versteht das ganze Mahnmal nicht. "Es ist so abstrakt. Ich kann damit gar nichts anfangen. Es ist zwar wunderschön - aber was soll es mir sagen?" Shapiras Kunstaktion erscheint ihr daher mehr als nötig. Das Stelenfeld verzichtet tatsächlich auf viel Erklärungen. Einige wenige Tafeln erzählen die Entstehungsgeschichte, ansonsten ist der Besucher auf sich allein gestellt - es sei denn er findet das unterirdische Besucherzentrum, das wichtige Einordnungen und Hintergründe zum Völkermord liefert.
Widmung für "Lieblings-Neonazi"
"Oh, es ist wirklich aufregend zwischen den Stelen umherzulaufen. Das Stelenfeld ist so schön", sagen zwei schwedische Touristinnen, die eine Menge Selfies an dem fotogenen Ort geschossen haben. "Wofür es steht? Keine Ahnung. Wir haben hier keinerlei Information dazu gefunden."
Der ein oder andere Tourist wird sich nun für diese unbedarfte, naive oder auch respektlose Haltung in Shapiras Projekt abgestraft sehen. Einige wenige stehen nun stellvertretend für ein weit verbreitetes Verhalten öffentlich am Pranger - die Internetseite ist ein viraler Hit und soll laut Shapiras Agentur in den ersten zwölf Stunden bereits 500.000 Mal geklickt worden sein. Shahak Shapira gibt sich großzügig. In den FAQ der Internet-Kunstaktion ist zu lesen: "Ich bin auf einem der Fotos zu erkennen und schäme mich plötzlich, es öffentlich ins Internet hochgeladen zu haben. Kannst du es entfernen? - Ja. Schicke eine Email an undouche.me@yolocaust.de." (in Etwa "enttrottele mich")
Jenseits der Diskussion, ob das Mahnmal angemessen an den Völkermord an den europäischen Juden erinnert, hat die "Yolocaust"-Debatte auch eine bundespolitische Bedeutung. Bei der Präsentation am Mittwoch Abend soll Shahak Shapira nach Angaben des RBB ergänzt haben: "Dieses Projekt widme ich meinem Lieblings-Neonazi, Björn Höcke." Der Thüringer Chef der Alternative für Deutschland (AfD) hatte kürzlich für einen Eklat gesorgt, als er bei einer Rede in Dresden das Holocaust-Mahnmal in Berlin als ein "Denkmal der Schande" bezeichnete.