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Zahl der Corona-Toten steigt über 100.000

25. November 2021

Das Robert-Koch-Institut vermeldet eine traurige Zahl für Deutschland. Abschied in Zeiten der Pandemie - eine Spurensuche.

Sarg eines Corona-Toten in einem Krematorium in Meißen (09.11.2021)
Sarg eines Corona-Toten in einem Krematorium in Meißen (Anfang November)Bild: Robert Michael/dpa-Zentralbild/dpa/picture alliance

100.000 COVID-Tote in Deutschland

03:23

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"Ich bin mir sicher: Er hat gemerkt, dass wir da waren. Auch wenn ich ihm nur mit dem Plastikhandschuh über die Stirn streicheln konnte." Kerstin B. (Name geändert) gerät ins Weinen, wenn sie von dem Moment erzählt. In diesen Tagen ist es ein Jahr her, dass ihr 83-jähriger Vater in einer Berliner Klinik verstarb, an Corona, mit Corona. Und nun, im Erzählen und zum Jahrestag, kommt alles wieder hoch. Das lange Leiden des Vaters.

Kerstin B. lebt in Düsseldorf, die Eltern in Berlin. Als die Familie den Anruf erhielt, dass der Vater bald sterben würde und trotz seiner Corona-Erkrankung ein letzter Besuch möglich sei, kämpfte Kerstin B., die älteste Tochter, mit sich. Und hielt es nicht aus. "Mir war alles egal. Ich wollte mich zumindest von meinem Vater verabschieden."

Am Abend stieg sie ins Auto, telefonierte einige Male mit dem Krankenhaus. Sie fuhr mit ihrem Sohn die knapp 600 Kilometer nach Berlin. Beide kamen, wohl für knapp zehn Minuten, ans Klinikbett. "Wir waren total in Plastik gehüllt." Kittel, Handschuhe, Haube, Schutzbrille. "Einen Tag später hatte er es dann geschafft."

Hunger auf Gurken

Ins Krankenhaus war der Vater wegen einer aufbrechenden Tuberkulose gekommen - ohne mit dem Coronavirus infiziert zu sein. "Vermutlich wurde er von einem Arzt in der Klinik angesteckt", sagt seine Tochter. Der 83-Jährige ist ein Corona-Toter, einer von nun offiziell mehr als 100.000 in Deutschland.

Intensivstation der Leipziger Uniklinik (Mitte November)Bild: Jan Woitas/dpa/picture alliance

Wenn Kerstin B. lange erzählt, durchlebt sie den Schmerz erneut. Aber es tritt auch die Lebensfreude des Vaters hervor. Mal weint die 58-Jährige, mal lächelt sie hörbar, wenn sie seinen Hunger auf saure Gurken beim letzten Treffen im Park des Pflegeheims schildert.

Dieses verdammte Virus ist teuflisch. Die Menschen kriegen es durch Leichtsinn oder Zufall, durch Begegnung und Nähe. Aber jeder stirbt für sich allein. Nun hunderttausendfach.

Der Vater von Kerstin B. war vor zwei Jahren in ein Heim in Berlin gezogen, weil seine Frau ihn nicht pflegen konnte. Drei Monate später kam der Corona-Lockdown und galt auch für diese Einrichtung. Ein Leben "wie in einer Einzelzelle", ohne Kontakt zu den anderen Bewohnern des Heims. Ein "Corona-Leidensweg", sagt Kerstin B., "eigentlich für die Betroffenen unwürdig und unmenschlich".

Viele leiden

Kerstin B. spricht nicht schlecht über das Personal. "Die haben bestimmt eine Riesenleistung vollbracht." Aber das Haus sei "notorisch unterbesetzt" gewesen, "das gilt ja nicht nur für dieses Pflegeheim". Eine Belastung für viele.

Auch für Pflegekräfte wie Rita Kremers aus Bad Nauheim. Sie ist Betriebsratsvorsitzende beim "Kuratorium Wohnen im Alter", mit 40 Jahren Berufserfahrung. Kremers schildert die Sorgen - sowohl von Heimbewohnern als auch des Personals. "Vor dem Sterben haben eigentlich alle Angst. Und die sahen auch: Da werden Menschen künstlich beatmet."

Das Thema erreichte Kremers mit Wucht, als ein befreundeter Krankenpfleger an den Folgen von Corona starb. Er hatte sich, berichtet Kremers, relativ früh infiziert, war schnell in der Klinik, starb nach sechs Wochen auf der Intensivstation. "Der allererste Gedanke war: ein Mensch, den Du kennst. Jetzt, wo es ein Gesicht dazu gibt, hat dieses Virus dich erreicht." Seitdem habe die Krankheit für sie eine andere Dimension. 

Cottbus, Hildesheim: hunderttausend Menschen

Ein Gesicht. Und nun hunderttausend. So viele Menschen leben beispielsweise in Cottbus. Oder in Hildesheim. Aber es ging eben nicht um die Einwohnerschaft einer Stadt. Das Land verlor hunderttausend Menschen, hunderttausend Individuen.

Altmarkt in Cottbus beim ersten Lockdown (März 2020)Bild: picture-alliance/dpa/P. Pleul

Ein zentrales Gedenken an Corona-Tote gab es bereits. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte es Anfang März 2021 bei einer Begegnung mit Hinterbliebenen im Schloss Bellevue für Mitte April angekündigt. Da waren bereits 71.500 Corona-Tote zu beklagen. Als Steinmeier sieben Wochen später im weithin menschenleeren Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt das Wort ergriff und an einzelne Verstorbene erinnert wurde, lag die Zahl bei über 80.000. 

"Wir sind ermüdet von der Last der Pandemie und wundgerieben im Streit um den richtigen Weg. Auch deshalb brauchen wir einen Moment des Innehaltens", sagte Steinmeier damals und sprach von der "menschlichen Tragödie der Pandemie".

Gedenkorte

Einige Kommunen haben begonnen, auf Friedhöfen Gedenkbäume zu pflanzen für die Corona-Toten der Stadt. "Das Mitgefühl der gesamten Stadtgesellschaft gilt allen Hinterbliebenen und besonders denen, die in der Stunde des Abschieds ihren Lieben nicht nahe sein durften", schreibt beispielsweise der Düsseldorfer Oberbürgermeister Stephan Keller auf einer Tafel neben einem Gedenkbaum auf dem Südfriedhof der Stadt.

Corona-Gedenktafel auf dem Südfriedhof in DüsseldorfBild: Christoph Strack/DW

Dirk Pörschmann, Direktor des 1992 eröffneten Museums für Begräbniskultur in Kassel, findet es verständlich, "einen Trauerort zu schaffen, der für alle offen ist". Aber Pörschmann geht es nicht nur um Denkorte. Er hält auch einen deutschlandweiten, jährlich wiederkehrenden Corona-Gedenktag für vorstellbar. Die derzeitige Polarisierung stehe aber einem solchen Gedenken noch im Wege.

Pörschmann und seine Mitarbeiter wissen und erforschen so ziemlich alles rund um Tod und Sterben in Deutschland. Aber er denkt in der Corona-Not auch größer. "Wir sollten nicht nur an die hunderttausend Toten denken, sondern auch an die in der Einsamkeit der ersten Welle Verstorbenen. Oder an jene, deren Krebs-OP verschoben wurde und die dann starben." Es klingt erschreckend realistisch, wenn Pörschmann sagt, die Hunderttausend seien ja "nur ein Zwischenstand".

Der Spielball

Dietmar Preißler ist Historiker und Sammlungsdirektor im "Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" in Bonn. Die Expertinnen und Experten dort sammeln vieles zur Pandemie. Beispielsweise besitzt das Museum den Ball vom ersten Corona-bedingten "Geisterspiel" der Bundesliga, als der 1. FC Köln gegen Borussia Mönchengladbach aus Sicherheitsgründen vor leeren Rängen gegeneinander antreten mussten.

Und sie sammeln zum Thema "Corona und Tod", "weil dieses schlimme Ereignis Tod eine so große Rolle spielt", sagt Preißler. Man müsse mit den Stücken aber sehr sensibel damit umgehen. "Es gilt, die Würde des Menschen über den Tod hinaus zu wahren."

Museumsreif wurde beispielsweise ein einfacher Kalender von 2020, auf den eine Frau Tag für Tag handschriftlich die neuen Zahlen an Infektionen und Todesfällen notiert hatte. "Da wird die Betroffenheit deutlich." Am Ende des Jahres schickte sie ihn selbst ans Haus der Geschichte. Preißlers Team nahm auch Kontakt auf mit Bestattungsunternehmen. Zur Sammlung gehört nun eine komplette Schutzausrüstung, die Bestatter beim Umgang mit Corona-Toten tragen müssen. Auch ein Einsargungsformular.

Einsargungsformular im Haus der GeschichteBild: Stiftung Haus der Geschichte/Axel Thünker

Bestattungsunternehmer sind ebenfalls eine Berufsgruppe, die Corona besonders gefordert hat. Fabian Lenzen leitet mit seiner Frau in Berlin ein Bestattungsunternehmen in fünfter Generation. Der 44-Jährige ist Obermeister der Bestatterinnung Berlin und Brandenburg. "Jetzt gerade nimmt die Taktzahl wieder zu." Konsequenz sind vermehrt Beerdigungen, bei denen die Bestatter auf ihre eigene Unversehrtheit achten müssen. 

Ratlosigkeit der Bestatter

Wenn man "vernünftige Schutzausrüstung" trage, sei "das Risiko überschaubar", sagt Lenzen. Nur in den Atemwegen der Verstorbenen sei, wohl bis zu 18 Tage lang, ansteckungsfähiges Material. Lenzen kennt Fälle, in denen Ärzte die Nennung von Corona auf dem Totenzettel vergessen hatten - und dann die Bestatter besonders in ihrer Kompetenz gefordert waren.

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Lenzen sieht zudem die besonderen trauerpsychologischen Aspekte: "Wie gehe ich mit den Angehörigen um? Was ist möglich, was nicht? Wie kann man vermitteln, dass Angehörige nicht die Möglichkeit haben, sich zu verabschieden?" Offiziell, seien Bestatter keine Seelsorger, aber durch den allgemeinen Säkularisierungsprozess kämen sie immer mal wieder in diese Rolle.

Petra Bahr ist evangelische Theologin und Regionalbischöfin in Hannover. Sie weiß, wie sehr sich Seelsorgerinnen und Seelsorger in den ersten Corona-Wellen engagierten, um Trauernden beizustehen und eine familiäre Form von Abschied und auch von Weiterleben zu ermöglichen.

"Jetzt sterben Schwangere"

Bahr nennt die steigenden Zahlen "ungeheuerlich". "Wir haben uns ja schon fast angewöhnt, sie kühl zur Kenntnis zu nehmen", findet die Theologin. Aber es sei wichtig, immer wieder bewusst zu machen, "dass da eben keine Zahlen versterben, sondern immer Menschen".

Bahr macht den Unterschied zur ersten Welle deutlich, als hauptsächlich Senioren ums Leben kamen: "Jetzt sterben Schwangere, jetzt sterben Babys, jetzt sterben Mütter und junge Väter. Im Grunde ist dieses Sterben, das uns zunehmend weniger zu interessieren scheint, mit deutlich mehr Folgewirkungen verbunden, mit deutlich mehr Not und Leid und auch zerstörten Lebensläufen."

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All das wird das Land verändern. "Die Corona-Krise hat massiven Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen", sagt Historiker Preißler. Er kommt von der Frage nach den bislang hunderttausend Todesopfern auf die Pest im Mittelalter und die Spanische Grippe 1918/19, die "auch Einfluss auf die Gesellschaft" gehabt hätten. "Das wird nun die Geschichte beeinflussen."

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