Neue Studie widerspricht WHO
4. Februar 2012"Geißel der Menschheit" - so wird Malaria oft genannt. Aber eigentlich müsste man sagen: Malaria ist eine Geißel des armen Teils der Menschheit. Denn in den wohlhabenden Industriestaaten ist die Krankheit nicht existent, von ein paar Touristen abgesehen, die von Fernreisen infiziert zurückkehren.
Das liegt teilweise an den klimatischen Unterschieden der Weltregionen: Bis vor ein paar Jahrzehnten trieb nämlich die Anophelesmücke, die die Krankheit beim Blutsaugen überträgt, auch in Europa noch ihr Unwesen - bis ihr dann durch Trockenlegung von Sümpfen und den Einsatz von Insektiziden wie DDT endgültig der Garaus gemacht wurde. In den Entwicklungsländern hingegen finden die Mücken weiterhin optimale Bedingungen. Den dort lebenden Menschen fehlt es praktisch an allem: Schutzkleidung, Moskitonetze und Insektizide sind ebenso Mangelware wie Medikamente und adäquate medizinische Versorgung nach einer Infektion.
Doppelt so viele Malaria-Tote wie bisher angenommen?
Die Weltgesundheitsorganisation WHO führt Statistiken über die Zahl der Malaria-Toten. So starben im Jahr 2010 weltweit insgesamt 655.000 Menschen an Malaria. Besonders häufig trifft es Kinder.
Aber vielleicht liegt die Zahl der Todesopfer in Wirklichkeit auch viel höher. Darauf deutet nämlich eine Studie hin, die amerikanische Wissenschaftler in der renommierten Medizinfachzeitschrift "The Lancet" veröffentlicht haben. Nach ihren Berechnungen starben 2010 nahezu doppelt so viele Menschen an Malaria, nämlich weltweit 1,2 Millionen.
Ihre zweite These: Ältere Kinder über fünf Jahren und Erwachsene fallen der Krankheit deutlich häufiger zum Opfer als bislang angenommen. Das ist deswegen überraschend, weil nach der medizinischen Lehrmeinung Kleinkinder eine Immunität entwickeln, wenn sie mit einem Erreger konfrontiert werden und die Infektion überstehen. Als Erwachsene sind sie dann gut gewappnet - so funktioniert schließlich auch eine Impfung.
Neuer methodischer Ansatz
Wie kommt es, dass die in "The Lancet" publizierten Ergebnisse so gewaltig von den Erkenntnissen der WHO abweichen? Professor Christopher Murray von der Universität in Seattle und Hauptautor der Studie erklärt das so: "Bei bisherigen Hochrechnungen ist man von der Zahl von Malaria-Ausbrüchen, vom Anteil der infizierten Personen ausgegangen und hat dann überlegt, wie hoch die plausible Todesfallrate anzusetzen ist, die sich aus dieser Infektionsrate ergibt." Die neue Studie geht praktisch anders herum vor: Die Wissenschaftler haben für den Zeitraum von 1980 bis 2010 alle verfügbaren Daten über Malaria-Todesfälle gesammelt und dieses - natürlich ebenso unvollständige - Zahlenmaterial hochgerechnet. Dabei berücksichtigten sie zum Beispiel auch den medizinischen und hygienischen Standard in den verschiedenen Ländern und die Ausstattung mit Moskitonetzen, Medikamenten und Insektiziden.
Klar ist: Auch die neuen Zahlen sind Schätzungen und mit vielen Unsicherheiten behaftet. Das betont auch Christopher Murray. "Aber unsere Feststellung, dass es mehr Malaria-Todesfälle gibt als bislang gedacht, wirft schwierige Fragen auf: Denn die finanziellen Mittel, die in den nächsten Jahren für die Krankheitsbekämpfung verfügbar sind, bleiben bestenfalls auf dem jetzigen Niveau." Und man müsse darüber nachdenken, ob die vorhandenen Ressourcen nicht stärker auch auf ältere Kinder und Erwachsene ausgedehnt werden müssten.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO kann die neuen Studienergebnisse nur zum Teil nachvollziehen, so Pressesprecher Gregory Hartl vom Genfer Hauptquartier: "Das wichtigste ist, dass unsere Schätzungen und die Schätzungen der Lancet-Studie in einem Punkt übereinstimmen: Die Sterblichkeit bei Malaria hat in den vergangenen fünf bis sieben Jahren abgenommen – und das ist erfreulich." Und die hohe Abweichung bei der Zahl der absoluten Fälle? "Die beiden methodischen Ansätze sind unterschiedlich. Wir bleiben bei unserem Ansatz."
Zweifel an Datenbasis
Der WHO-Sprecher zweifelt besonders die angeblich höheren Sterblichkeitswerte bei Kindern über fünf Jahren und Erwachsenen an: "Normalerweise entwickeln Kleinkinder eine hohe Immunität." Und die Weltgesundheitsorganisation kritisiert, dass die Lancet-Studie zu einem Teil auf Daten der sogenannten "verbalen Autopsie" basiert: "Da sagt dann jemand, nachdem der Patient verstorben ist, zu dem Offiziellen, der den Tod registriert: 'Die Person hatte Fieber, das muss Malaria gewesen sein.' Aber einen Beweis dafür gibt es nicht."
Stephen Lim, einer der Autoren der neuen Studie, weist solche Kritik zurück: "Wir haben ganz bewusst untersucht, wie gut die 'verbale Autopsie' die Malaria identifiziert." Dazu nahmen sich die Wissenschaftler zahlreiche Fälle unter die Lupe, bei denen Malaria als Todesursache eindeutig nachgewiesen war. Zu diesen Fällen gab es auch spontan geäußerte mündliche Diagnosen. "Und da zeigte sich, dass - wenn es überhaupt eine Abweichung gab - die 'verbale Autopsie' Malaria als Todesursache eher unterschätzt hatte."
Eines möchte Stephen Lim klar stellen: Natürlich sei die Sterblichkeit bei Kleinkindern immer noch am höchsten, sagt er, und natürlich entwickele sich eine Immunität - nur wahrscheinlich nicht so stark wie bisher vermutet.
Lob für die Lancet-Studie
Auch für Professor Rolf Horstmann, Leiter des Instituts für Tropenmedizin in Hamburg, ist die medizinische Lehre über die Immunitätsentwicklung "über jeden Zweifel erhaben". Aber bei Malaria sei das eben nur eine Teilimmunität, die also keinen vollständigen Schutz bietet.
Die neue Studie hält Horstmann für nachvollziehbar und den betriebenen Aufwand für eindrucksvoll: "Es sind einfach mehr Einzeldaten einbezogen, es wurde sorgfältiger mit größerem Zeitaufwand gesucht. Man bezieht sich auf 22.000 Messungen, und jede einzelne Messung hat man auf ihren Wert überprüft."
Der Hamburger Tropenmedizinier sieht allerdings sowohl bei der WHO-Statistik als auch der Lancet-Untersuchung ein großes Problem: die unsichere Datenbasis. "Hochgerechnet wird in beiden Studien." Man solle also besser auf vermeintlich exakte Zahlenangaben ganz verzichten.
Das Ziel ist, die "Geißel der Menschheit" irgendwann wirklich weltweit auszurotten. Malaria, sagt Rolf Horstmann, ist eine vermeidbare Krankheit. Und eine besiegbare.
Autor: Michael Gessat
Redaktion: Klaus Dahmann