Zaimoglu: "Ich halte viel von Selbstkritik"
18. Oktober 2015DW: Ihr neues Buch "Siebentürmeviertel" spielt im Istanbul der 1930er Jahre. Was hat Sie an dieser Epoche fasziniert?
Feridun Zaimoglu: Es gehört zum Wissen meiner Familie, dass es 1500 deutsche Exilanten gegeben hat, die den Weg über die Schweiz in die Türkei gefunden haben. Ich sage "zum Wissen meiner Familie", weil meine Eltern Kinder von Heimatvertriebenen sind. Sie sind Kinder von Flüchtlingen aus Bulgarien väterlicherseits und aus dem Kaukasus mütterlicherseits. Es hat mich gereizt, nicht unbedingt eine Geschichte von Flucht und Vertreibung, sondern eine Geschichte der Heimatsfinder zu erzählen. Da habe ich dann überlegt, man könnte es doch mit den Augen eines Kindes aufschreiben.
Was für eine Reise erwartet die Leser in diesem Buch?
Ich gehöre nicht zu denen, die dem Leser oder der Leserin vorgaukeln - wie es auch leider immer in vielen modernen Büchern passiert - Psychologie, Kenntnisse oder Wissen über die Personen vermitteln zu wollen. Was die Leser erwartet, sind 12 bis 14 Jahre aus dem Leben eines deutschen Buben - aus der Ich-Perspektive. In diesem Buch wird die Geschichte des Viertels, die Geschichte einer archaisch verfassten Gesellschaft, erzählt. Was die Leser erwartet, ist auch die Vermittlung eines anderen Istanbul. Ich hatte das Gefühl, in den Büchern über Istanbul werden immer dieselben Viertel dargestellt, nämlich jene, in denen sich das Bürgertum amüsiert. Ich mache immer die Armen, die Unerwünschten zum Helden.
Welche Gefühle hatten Sie, als Sie Ihr neues Buch geschrieben haben?
Erstens musste ich ein Kind sein - auf dem Papier. Ich wollte die Verlassenheit eines Kindes darstellen, denn Wolf wächst mutterlos auf. Ich war viel mehr poetisch verfasst als in anderen Büchern. Ich hatte auch bei diesem Buch viele Geschichten zu bedenken, die Geschichte meines Vaters, meine eigenen Geschichten. Aber ich habe mich dann auf meine Erfindungsgabe verlassen wollen. Ich kam mir vor wie einer, der ein Medium ist. Ein Medium für eine Geschichte, die durch mich fließt. Am Ende hatte ich das Gefühl, ich würde von Wolf vertrieben werden.
In Ihren Büchern ist Multikulturalität allgegenwärtig. Wie erleben Sie sie im Alltag?
Multikulturalität ist ein Fremdwort, und das Leben ist immer stärker als Fremdwörter. Das erlebe ich im Alltag. Ich hatte immer Schwierigkeiten, das Leben und die Verhältnisse über Fremdwörter und über die Begriffe aus dem Soziologie-Seminar zu vereinfachen. Wenn mit Multikulturalität eine friedliche Koexistenz der Speisekarten gemeint ist, dann ist es zu wenig.
Als ein Autor, der die deutsch-türkischen Beziehungen im wahrsten Sinne des Wortes erlebt: Wie schätzen Sie dieses Verhältnis ein? Und wie könnte man es verbessern?
Es ist immer gut, wenn man sich an die eigene Nase fasst. Ich halte viel von Selbstkritik. Wenn man sich verbessern möchte, muss man auch Wahrheiten aussprechen und nicht bei halben Wahrheiten bleiben. Es wäre damit viel erreicht, wenn man diesen folkloristischen Heimat-Kitsch - damit meine ich die Türkischstämmigen - brechen könnte. Ich finde, man muss davon wegkommen, sich als Heimatvertriebener zu fühlen.
Jetzt ist auch die Lage der Flüchtlinge ein aktuelles Thema zwischen den beiden Ländern. Was sagen Sie dazu?
Es ist schon erstaunlich bei Frau Merkel: Gestern war Erdoğan der Bösewicht und jetzt ist er der Retter in der Not. Das hat natürlich auch sehr viel mit Hilfslosigkeit zu tun. Es scheint so zu sein, dass zwischen der Euphorie der ersten Stunde und der Ernüchterung vier Stunden später nicht viel übrig bleibt. Ich hoffe wirklich, dass die Politiker in Deutschland langsam den Verstand einschalten, aber ich befürchte, das wird lange nicht der Fall sein. Keiner hat mit den Flüchtlingen gerechnet. Sie sind da und die ersten Tage waren toll - das macht mich auch stolz.
Aber die Flüchtlinge müssen auch jetzt einiges aushalten. Ich habe mit vielen sprechen können und dabei festgestellt, dass die Betroffenen dankbar sind, hier in Sicherheit zu sein. Ich bin an der Seite der Flüchtlinge, aber natürlich bin ich auch an der Seite jener, die sich Sorgen machen. Ich finde es ungeheuerlich, dass man diese Menschen - damit meine ich nicht die Pegida und AfD - Nazis nennt. Damit meine ich die Leute, die natürlich feststellen: Wenn 1,5 Millionen Menschen nach Deutschland einwandern, dann verändert das diese Gesellschaft.
Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu wurde 1964 in Anatolien geboren und verbrachte die ersten zwei Jahrzehnte seines Lebens in München, Berlin und Bonn. Ab 1985 studierte er Kunst und Humanmedizin in Kiel. Neben seinen preisgekrönten Romanen verfasst er auch Theaterstücke und Drehbücher, und ist als bildender Künstler und Kurator tätig. Als freier Journalist schreibt er unter anderem für Die Zeit, Die Welt und den Tagesspiegel.