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Politik

Mühsamer Kampf um den Schutz der Kinder

Helena Kaschel
28. Januar 2020

Im Januar 2010 machte der Leiter des Canisius-Kollegs Missbrauchsfälle an dem Elite-Gymnasium aus den 70er und 80er Jahren öffentlich. Viel ist seither getan worden. Doch Experten sehen noch großen Handlungsbedarf.

Lügde Wohnwagen Kindesmissbrauch
Jahre nach Bekanntwerden der Fälle im Canisius-Kolleg macht unter anderem die Missbrauchsserie in Lügde SchlagzeilenBild: picture-alliance/dpa/G. Kirchner

In den Wochen nach dem Bekanntwerden der Fälle am Canisius-Kolleg meldeten sich bundesweit zahlreiche weitere Opfer sexuellen Missbrauchs unter anderem in katholischen Einrichtungen zu Wort.

Zehn Jahre später seien die Zahlen nach wie vor "erschreckend hoch", klagte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey am Montag dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Allein 2018 waren laut Polizeilicher Kriminalstatistik mehr als 14.600 Kinder von sexueller Gewalt betroffen - das sind 40 gemeldete Fälle pro Tag. Die Dunkelziffer liegt Schätzungen zufolge deutlich höher. Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehen in Deutschland von einer Million Kindern aus, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben.

Zum Jahrestag des Skandals mahnte Giffey zu mehr Engagement, um Kinder und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch zu schützen. "Ob in Schulen, Kitas, Kirchgemeinden oder Sportvereinen - wir müssen überall den bestmöglichen Schutz von Kindern ermöglichen und unsere Anstrengungen weiter intensivieren", so die SPD-Politikerin.

Welle politischer Maßnahmen

Dabei war schon auf die Offenbarungswelle Betroffener 2010 eine Welle politischer Maßnahmen gefolgt. Zwei Monate, nachdem der Skandal ins Rollen geraten war,  berief die Bundesregierung die ehemalige Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD) zur ersten Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs. Seit 2016 untersucht die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs alle Formen von sexueller Gewalt gegen Kinder in Deutschland - ob in Kirche, Kita, Fußballverein oder Familie. Rund 1.500 Betroffene haben sich dem Gremium seither anvertraut.

Millionen Euro sind bundesweit in die Erforschung von sexualisierter Gewalt und Prävention geflossen. Seit 2013 finanziert ein vom Bund eingerichteter Fonds Hilfsleistungen für Opfer sexuellen Missbrauchs im familiären Umfeld. Und der im vergangenen Dezember eingerichtete Nationale Rat soll den langfristigen Dialog zwischen den beteiligten Berufsgruppen, den Beratungsstellen und anderen Nichtregierungsorganisationen und den Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen fördern.

Heute sei es "deutlich schwieriger, das Thema ganz und gar beiseite zu drängen", bilanziert Sabine Andresen, Erziehungswissenschaftlerin und Vorsitzende der Unabhängigen Kommission. Es gebe "ein Erschrecken darüber, wie oft betroffenen Kindern nicht geglaubt wurde, und vielleicht resultiert aus diesem Erschrecken auch eine neue Bereitschaft". Dazu hätte in den vergangenen zehn Jahren auch die erhöhte Präsenz des Themas in den Medien beigetragen.

Auch Johannes-Wilhelm Rörig, seit 2011 Unabhängiger Beauftragter, sieht Fortschritte. "Die Träger von zum Beispiel Kitas und Schulen sind jetzt sehr viel stärker sensibilisiert." Auch der Wille, Kinder und Jugendliche zu schützen, sei erkennbar gewachsen.

Beobachtet eine erhöhte Sensibilität in Institutionen und Einrichtungen für das Thema Missbrauch: Johannes-Wilhelm RörigBild: Christine Fenzl

28.000 Betroffene auf eine Fachberatungsstelle

Doch den Entwicklungen, da sind sich beide Experten einig, stehen große Herausforderungen gegenüber. So seien die spezialisierten Fachberatungsstellen, die präventive Arbeit leisten und Betroffene und Angehörige bei der Verarbeitung von Missbrauch unterstützen, vielfach unterfinanziert und personell unzureichend ausgestattet. Hinzu kommen massive Versorgungslücken - vor allem auf dem Land. Nach Angaben der Interessensvertretung der Fachberatungsstellen, der BKSF, kommen derzeit durchschnittlich 28.000 Betroffene auf eine Beratungsstelle. Außerdem fordert Andresen mehr Angebote, die etwa auf Jungen als Opfer oder auf ein Zusammenspiel von Rassismus und sexualisierter Gewalt zugeschnitten seien.

Zwar soll ein bis 2021 laufendes Bundesmodellprojekt die Versorgungssituation im ländlichen Raum verbessern. Rörig sieht aber vor allem die Länder und Kommunen in der Pflicht - und das nicht nur mit Blick auf die Fachberatung: Im Zuge des Missbrauchsskandals wurden Institutionen und Einrichtungen angehalten, entsprechende Schutzkonzepte vor sexualisierter Gewalt zu erarbeiten. Während unter anderem Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gesetzlich verpflichtet sind, Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen, gebe es anderswo erhebliche Defizite. So habe bislang etwa nur jede zehnte Schule in Deutschland ein umfassendes Schutzkonzept entwickelt, heißt es in dem Abschlussbericht eines 2019 veröffentlichten Monitoring-Berichts des Unabhängigen Beauftragten und des Deutschen Jugendinstituts. Mit einem TV-Spot unter dem Titel "Anrufen hilft!" wirbt der UBSKM für ein Hilfetelefon.

"Kultur des Hinsehens und Hinhörens"

"Es ist eine große Herausforderung für Schulen, gerade in Zeiten des Lehrermangels und der Inklusion, sich zusätzlich auch mit diesem Thema zu beschäftigen", räumt Rörig ein. Gleichzeitig sei es dringend erforderlich, dass sich Lehrkräfte fortbildeten, um etwa die Signale zu erkennen, die von Missbrauch betroffene Schülerinnen und Schüler aussenden. Schulen, so wünscht es sich der Beauftragte, sollten gesetzlich verpflichtet werden, Schutzkonzepte einzuführen, während die Länder sich zugleich verpflichten sollten, die Schulen personell zu entlasten und finanziell zu unterstützen - schließlich seien sie "der Ort der Prävention Nummer eins".

Auch bei sexualisierter Gewalt im familiären Umfeld - der häufigsten Form sexuellen Kindesmissbrauchs - spielen Schulen eine Schlüsselrolle. Bevor ein Fall offenbar werde, solle im Kollegium jeder Schule eine Verständigung darüber stattfinden, was zu tun ist, wenn sich ein Kind jemandem anvertraut, fordert die Pädagogin Andresen.

Institutionen sollten die Aufarbeitung von Missbrauch ebenso ernst nehmen wie die Prävention, fordert Sabine AndresenBild: Barbara Dietl

"In Deutschland gab es lange die Haltung: In die Familie schauen wir nicht hinein. Nur, wenn es gar nicht mehr anders geht, greift die Verantwortung des Staates und ein Kind wird aus der Familie genommen. Diese Angst, in die Familie zu blicken, zu intervenieren, ist weit verbreitet - auch bei Fachkräften", sagt Andresen. Insgesamt müsse eine "Kultur des Hinsehens und Hinhörens" etabliert werden. Dabei sei es sowohl an Schulen als auch in der Kinder- und Jugendhilfe und an Familiengerichten wichtig, die Stimme der Kinder und Jugendlichen immer einzubeziehen und deren Rechte und Interessen zu berücksichtigen.

Von der Politik erwartet die Kommissionsvorsitzende, dass sie Einrichtungen und Institutionen zur Aufarbeitung auffordert. "Uns kommt es manchmal vor wie eine Art Reflex, dass Verantwortliche in Vereinen oder Schulen sagen: Wir konzentrieren uns auf die Prävention und lassen das, was zurückliegt, einfach beiseite. Das geht auf Dauer schief. Eine Gewaltgeschichte wirkt auch in die Gegenwart und Zukunft", sagt Andresen.

Rörig hat für die Zukunft große Pläne: Der Missbrauchsbeauftragte hofft, 2021 eine umfassende Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne "in der Dimension der erfolgreichen Anti-Aids-Kampagne" zu starten. In der Zwischenzeit sei jeder Einzelne aufgefordert, bei einem Verdacht auf sexuelle Gewalt oder sexuelle Übergriffe gegen Kinder und Jugendliche kritisch hinzusehen und zu reagieren.

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