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"Zeigen, dass 'Charlie Hebdo' nicht tot ist"

Susanna Dörhage29. Juni 2015

Vor knapp sechs Monaten löschten islamistische Terroristen die Redaktion des französischen Satire-Magazins "Charlie Hebdo" nahezu aus. Chefredakteur Gérard Biard im DW-Interview über die schwierige Zeit danach.

Schwarzes Pappschild, auf dem mit weißer Schrift steht: Je suis Charlie (Quelle: Reuters/Phil Noble)
Bild: Reuters/Noble

Chefredakteur Gérard Biard lässt sich seine Anspannung nicht anmerken. Für ihn gilt die in Frankreich höchste Sicherheitsstufe für Personen, dennoch wirkt er gelassen bei einem der seltenen Interviews, das er seit dem Attentat gibt. Nur durch einen Zufall ist er von den Morden verschont geblieben – und spricht über sein Leben seit dem 7. Januar.

Deutsche Welle: Können Sie uns beschreiben, wie Sie damals das Attentat erlebt haben?

Gérard Biard: Ich war zum Zeitpunkt des Anschlags im Urlaub in London, ein Redaktionsmitglied rief mich an, sprach davon, dass es Tote gegeben habe, es war alles noch sehr konfus. Von da an hörte das Telefon nicht auf zu klingeln… Langsam begriff ich, dass da etwas Schreckliches passiert war, konnte aber logischerweise niemanden direkt am Ort des Geschehens erreichen… Ich ging dann zur französischen Botschaft, und dort wurde mir das Ausmaß des Geschehens erst so richtig vor Augen geführt. Die Botschafterin und die Sicherheitsleute erklärten, was passiert war, wer getötet und verletzt worden war. Am gleichen Tag noch bin ich nach Paris zurückgekehrt… Es war dann alles so irreal, man glaubte einfach nicht, dass so etwas hätte passieren können…. Wir sind zwar Journalisten, aber keine Kriegsreporter, wir leben in einer Demokratie. Wir arbeiten im Büro und wenn wir morgens aufstehen denken wir nicht, dass wir unser Leben riskieren – auch wenn wir bedroht werden.

Frankreich: Wie es Charlie geht

06:10

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Sie haben nach dem Anschlag direkt eine weitere Ausgabe veröffentlicht. Welche Gründe gab es, weiter zu machen?

Als wir uns am 8. Januar wiedergesehen haben, am Tag nach dem Attentat, gab es in der Redaktion die einmütige Entscheidung, sofort eine neue Ausgabe für die Folgewoche herauszugeben. Das haben wir auch gemacht. Nachdem diese Nummer raus war, gab es zwei gegensätzliche Strömungen innerhalb der Redaktion von "Charlie Hebdo": Die einen wollten genauso weitermachen wie bisher und ein wöchentliches Magazin herausgeben. Zu denen gehörte ich. Die anderen wollten eine fünf- bis sechsmonatige monatige Pause machen – und Luz (Anm. d. Red.: Zeichner Renald Luzier) gehörte zu den anderen. Wir haben dann einen Kompromiss geschlossen und fünf Wochen lang keine Zeitung herausgegeben, aber ich glaube, das reichte Luz nicht aus. Er wollte sich rein physisch aus dem ganzen herausziehen

Warum haben Sie weitergemacht?

Ich musste arbeiten, ich muss machen, was ich immer gemacht habe. Ich habe das persönlich gebraucht. Aber es war auch für die Zeitung notwendig. Wir mussten zeigen, dass "Charlie Hebdo" nicht tot ist.

Wollten Sie mit der gleichen journalistischen Ausrichtung der Zeitung weitermachen oder etwas verändern?

Wir haben die journalistische Ausrichtung beibehalten, wir haben weder den Ton noch die Meinungen verändert. Wir sind ein satirisches und kritisches Wochenmagazin geblieben…mit Reportagen, Analysen und Kommentaren – und natürlich mit satirischen Zeichnungen. Wir konzentrieren uns immer noch hauptsächlich auf die französische Politik, auf Gesellschaftsthemen, wir sind immer noch anti-klerikal, wir sind Atheisten, bekämpfen den Totalitarismus..

Gérard Biard, Chefredakteur von "Charlie Hebdo"Bild: DW

Können Sie weiterhin mit dem extremistischen Islam humorvoll umgehen, und dabei auch provozieren?

Ich lehne den Begriff Provokation ab. Wir sind Kommentatoren, keine Provokateure. Wir sind sehr viel weniger gewalttätig als lustig. Wir wissen, dass unsere Zeichnungen und Texten mit Blick auf den Islam zu terroristischen Taten führen können, den Terror begünstigen können, aber müssen wir uns diesem unterwerfen, deshalb aufhören? Ich glaube nicht! Das ist, als wäre man Opfer einer Erpressung der Mafia, und man gibt nach - dann hört das nie auf.

Wenn etwas so schreckliches geschehen ist, muss sich da nicht etwas ändern? Es kann doch nicht so bleiben wie vorher?

Die Last des Verlustes wiegt schwer auf uns allen. Mehr sogar auf den Zeichnern, denn jedes Mal wenn sie den Stift in die Hand nehmen, müssen sie daran denken was passiert ist. Und deshalb hat Luz wohl auch aufgehört. Er konnte nicht mehr befreit loszeichnen, wenn er den Stift in die Hand nahm…Bei mir ist es anders: ich schreibe, wie ich immer geschrieben habe, verbiete mir nicht mehr, als ich mir vorher zugetraut habe.

Es heißt, es gäbe Streit in der Redaktion, zwei verschiedene Strömungen, zwei Lager. Wo verlaufen da die Linien?

Sich anzubrüllen, sich anzuraunzen gibt es in jeder Redaktion dieser Welt. "Charlie Hebdo" hat dies immer gelebt. Wir sind eine Redaktion mit starker Identität, eine Zeitung von Künstlern, eine Zeitung von Egoisten. Wenn Sie heute oder vor zehn Jahren eine Kamera oder ein Mikrofon in die Mitte einer Redaktionskonferenz von "Charlie Hebdo" gestellt hätten, hätten die Zuschauer gesagt: Das ist doch nicht möglich, die hassen sich, die keifen sich an. Das einzige, was sich geändert hat ist, dass wir ein Objekt medialen Interesses geworden sind. Ich habe den starken Eindruck, dass die Medien eine Reality-TV-Show über uns drehen wollen, eine Form von "Big Brother": Wer hat mit wem geschlafen, wer kommt neu rein, wer verlässt das Haus.

Wie finden Sie jetzt neue Zeichner, nachdem vier beim Anschlag getötet wurden?

Wir bekommen immens viele Zeichnungen. Aber die meisten können wir nicht veröffentlichen. Die Messlatte liegt einfach zu hoch. Es gab in dieser Zeitung Talente, die man gar nicht ersetzen kann. Und wir können da nicht auf ein schlechteres Niveau gehen. Das wäre unerträglich.

Die erste Ausgabe von "Charlie Hebdo" nach dem AnschlagBild: picture-alliance/Charlie Hebdo/Handout

Sie haben nach dem Anschlag viel Geld eingenommen. Wenn Sie jetzt allein entscheiden könnten, was Sie mit dem vielen Geld machen würden – wie lautet da Ihre Antwort?

Wir werden weitermachen wie bisher. "Charlie Hebdo" war immer eine unabhängige Zeitung, wir hatten nie fremde Anteilseigner. Diejenigen, die die Zeitung gemacht haben, besitzen auch die Zeitung. Es gab nie Werbung, wir haben gelebt von Verkäufen und von unseren Abonnenten. Früher haben wir mit der Zeitung Geld verloren, heute verdienen wir Geld, wobei wir wissen, dass das nicht ewig so weitergehen wird. Deshalb ist es jetzt Zeit darüber nachzudenken, was wir machen, um mit der Zeitung langfristig zu überleben.

Wie gehen Sie nach dem Attentat mit den hohen Sicherheitsmaßnahmen um, inwieweit haben sie Ihr Leben verändert?

Das Leben hat sich verändert, was mir fehlt ist die Improvisierung, die Spontanität: 'Oh, es ist schön, ich will draußen spazieren gehen'. Da muss ich planen. Ich kann zwar alles machen, aber ich muss es planen – das schränkt mein Leben ein wenig ein.

Gérard Biard ist Chefredakteur des französischen Satire-Magazins "Charlie Hebdo". Dieses Interview stammt in Auszügen aus einem Gespräch bei DW-TV, das Susanna Dörhage führte.