"Zeitenwende" ist Wort des Jahres
9. Dezember 2022"Zeitenwende" ist das Wort des Jahres 2022. Das gab die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Wiesbaden bekannt. Das Substantiv bezeichnet allgemein den Übergang in eine neu Ära und speziell den Beginn der christlichen Zeitrechnung vor nunmehr zwei Jahrtausenden; Bundeskanzler Olaf Scholz machte es im Hinblick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in neuem Gewand populär.
Der SPD-Politiker sprach gleich mehrfach von einer "Zeitenwende": im Februar in einer Bundestagsrede, in der das Wort fünfmal vorkommt, im August an der Karls-Universität im tschechischen Prag und im September vor den Vereinten Nationen in New York. Die Bundesregierung gab eigens - wenn auch nur im Internet - eine Broschüre heraus, natürlich mit dem Titel "Reden zur Zeitenwende".
Wort im ersten Satz
Erst vor wenigen Tagen legte der Hanseat, der bei Beobachtern nicht als rhetorisches Genie gilt, noch einmal nach. Scholz zeichnete einen Namensartikel in "Foreign Affairs", der führenden Fachzeitschrift über auswärtige Angelegenheiten und internationale Beziehungen mit Schwerpunkt auf der US-Außenpolitik. Überschrift: "Die globale Zeitenwende". Und auch hier steht das Wort wieder im ersten Satz.
In der englischsprachigen "Wikipedia"-Ausgabe gibt es längst einen eigenen Artikel mit dem Titel "Zeitenwende speech" (Zeitenwende-Rede), der sich vor allem auf Scholz' Auftritt im Bundestag bezieht. Darin werden die Schlüsselsätze des Kanzlers zitiert: "Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es (dem russischen Präsidenten Wladimir, Anm. d. Red.) Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus."
180-Grad-Wende
In der Folge analysierten Journalisten weltweit die Berliner Rede und sprachen - wie etwa der britische "Guardian" - von einer 180-Grad-Kurskorrektur. Quasi über Nacht sei Deutschland "nicht mehr nur ein ökonomisches, sondern auch ein geopolitisches Machtzentrum". Im Handstreich räumte die Regierung das eherne Dogma ab, wonach die Bundesrepublik keine Waffen in Konfliktgebiete liefert, und mobilisierte zugleich gewaltige Summen für eine "leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr". Scholz kündigte im Parlament ein Sondervermögen im Umfang von 100 Milliarden Euro an. Dabei betonte er die enge Verbundenheit mit "unseren Freunden und Partnern in Europa und weltweit".
Vor diesem Hintergrund ist das wichtigste Kriterium der GfdS ohne Zweifel erfüllt: Als "Wort des Jahres" kürt die Jury einen Begriff, der das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben in Deutschland sprachlich besonders bestimmt hat. Die ausgewählten Wörter und Wendungen seien allerdings mit keinerlei Wertung oder Empfehlung verbunden, erläutern die Wissenschaftler, die 2021 das Wort "Wellenbrecher" an die Spitze ihrer Liste gesetzt hatten - ein aus dem Küstenschutz bekanntes Hauptwort, das zuletzt für Schutzmaßnahmen benutzt wurde, womit die Wellen der Corona-Pandemie gebrochen werden sollten.
Angst vor dem Atomkrieg
Die "Zeitenwende" markiert aus Sicht der Wiesbadener Forscher nicht allein einen politischen Kurswechsel. "Bei vielen Menschen fand auch eine emotionale Wende statt: Angst und Sorge vor einem Atomkrieg in Europa, gar vor einem dritten Weltkrieg waren vielfach zu spüren", heißt es in ihrer Mitteilung. Bei der Auswahl aus mehr als 2000 Einsendungen sei sich die Jury rasch einig gewesen, sagte der Vorsitzende der GfdS, Peter Schlobinski.
Aber auch die folgenden Plätze auf der Siegerliste haben den gleichen thematischen Hintergrund: "Krieg um Frieden" (Platz zwei) und "Gaspreisbremse" (Platz drei). Auf Platz sechs steht gleich noch eine Wortschöpfung, die wir den Redenschreibern des Kanzlers zu verdanken haben: der "Doppel-Wumms" , mit dem die Ampelkoalition neben der Gaspreisbremse auch eine Strompreisbremse ankündigte, um die rasch steigenden Energiekosten zu dämpfen. Das "Neun-Euro-Ticket", dessen Inhaber bundesweit den öffentliche Personennahverkehr nutzen konnten, landet auf Rang acht.
Die Gesellschaft für deutsche Sprache ist eine politisch unabhängige Vereinigung zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache mit Sitz in Wiesbaden. Sie wird von der Bundesregierung und der Kultusministerkonferenz gefördert. Der 1947 gegründete gemeinnützige Verein bietet auch Sprachberatung bei Fragen rund um Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung an.
Reinhaltung des Leibes
Die Wörter des Jahres wurden nun schon zum 46. Mal bekanntgegeben. Doch so viel "Zeitenwende" wie diesmal - also Bezug zum Krieg und dessen Folgen - fand sich wohl noch nie darunter: Sogar die "Waschlappentipps" (Platz zehn), die der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann seinen Mitbürger*innen zur energetisch optimierten Reinhaltung des Leibes mit auf den Weg gab, sind keine Ausgeburt schwäbischer Knauserigkeit, vielmehr eine - wenn auch innovationsfreie - Antwort auf Anstrengungen des Kremlchefs, Gas in Westeuropa zur Mangelware zu machen.
Dass der vorige Satz sprachlich gereinigt werden müsse, finden indes viele, die mit der sogenannten gendergerechten Sprache (mal mit Sternchen, mal mit Doppelpunkt, mal ohne alles) auf Kriegsfuß stehen. "Einen mentalen Wandel verspürten offenbar vor allem ältere Menschen auch angesichts immer mehr um sich greifender Veränderungen im Sprachgebrauch", schreibt die GfdS. Ob diese "Sprachwende" sich allgemein durchsetzen werde - zuletzt in der Variante des generischen Femininums ohne Sprechpause - "bleibt allerdings abzuwarten", so Jury-Mitglied Jochen A. Bär.
Viele Sprachpuristen fürchten jedenfalls diese "neue Normalität" (Platz sieben; im Original die Bezeichnung für veränderte Lebensbedingungen durch die Corona-Pandemie) und spüren nicht nur "Inflationsschmerz" (Platz vier), sondern auch fortdauernde Pein beim Lesen und Hören ihrer Muttersprache, die gleichermaßen heftig sein und ebenso hitzig artikuliert werden kann wie das Leid der "Klimakleber" (Platz fünf), welche Versäumnisse der politischen Entscheidungsträger im Kampf gegen die Erderwärmung erdulden. Nur kurzfristige Abhilfe - leider auch noch ohne die eigene Mannschaft - bietet da die geistige Ablenkung in Gestalt einer saisonal ungewohnten Fußballveranstaltung in einem Wüstenstaat während des deutschen Winters: die "Glühwein-WM" (Platz neun).
jj/sti (dpa, afp, GfdS)