Zivilregierung als Gewinner der Krise
1. Mai 2012Die Tötung Osama bin Ladens löste die bisher tiefste Krise in den Beziehungen zwischen den USA und Pakistan aus. Möglicherweise noch schwerwiegender waren die Auswirkungen der US-Kommandoaktion auf die pakistanische Innenpolitik. Denn damit war klar: Trotz anders lautender Behauptungen des mächtigen militärischen Geheimdienstes ISI hatte Osama bin Laden sich seit Jahren in Pakistan aufgehalten.
Damit waren diejenigen pakistanischen Politiker gedemütigt, die Washington seit Jahren versichert hatten, der Al-Kaida-Chef befinde sich auf gar keinen Fall in ihrem Land. Darüber hinaus musste die zivile Regierung in Islamabad zur Kenntnis nehmen, dass der allmächtige militärische Geheimdienst, oder zumindest Teile seiner Führung, von der Anwesenheit Bin Ladens in der Garnisonstadt Abbottabad sehr wohl gewusst haben musste.
Sympathisanten an der Spitze
Iqbal Haider, ein ehemaliger Justizminister unter Benazir Bhutto, geht gegenüber DW.DE sogar noch weiter: "Es kann keinerlei Zweifel daran geben, dass Bin Laden sich in Pakistan versteckt hielt, und ebenso wenige Zweifel daran, dass Teile der pakistanischen politischen Elite, wenn nicht diese Gruppe insgesamt, Extremisten schützt. Osama hätte ohne die Unterstützung politischen Elite in Pakistan nicht überleben können.“
Eine Erniedrigung aus der Sicht Islamabads war die Tatsache, dass Washington weder Staatspräsident Asif Ali Zardari noch die pakistanischen Militärs über den bevorstehenden Zugriff in Abbottabad informiert hatte. Dass die anfliegenden Hubschrauber der US-Sondereinheit durch die Luftabwehr Pakistans nicht entdeckt wurden, stellte die traditionelle Rolle des Militärs als einzig funktionierende Institution in Pakistan erstmalig grundlegend in Frage. Dass der pakistanische Präsident kurz nach dem Zugriff um amerikanische Hilfe gebeten haben soll, um einen Militärputsch abzuwenden, rundete das Bild eines hilflosen Pakistan ab.
Liberale aus der Deckung
Owais Tohid, Politik-Experte aus Karatschi, stellt fest, dass die Tötung Bin Ladens und die tiefe Krise in den Beziehungen zu Washington die Koordinaten der pakistanischen Innenpolitik maßgeblich verschoben hätten. "Die Entdeckung Bin Ladens in Pakistan hat Washington die Möglichkeit gegeben, Islamabad unter Druck zu setzen. Denn erstmals geriet das pakistanische Establishment auch innenpolitisch in die Kritik wegen seiner Politik gegenüber den Extremisten, das hatte es bis dahin nicht gegeben.“
Sie sind bei weitem noch nicht die Mehrheit in Pakistan, aber liberale Politiker wie Iqbal Haider erheben die Stimme und kritisieren die Führung des Landes: "Wir lehnen religiöse Fanatiker ab. Diese Leute haben aber in den höchsten Kreisen Unterstützer. Die extremistischen Kräfte, die das Parteienbündnis Muttahida Majlis-e-Amal unter Musharraf gründeten, haben jetzt den 'Rat zur Verteidigung Pakistans' (Difa-e-Pakistan) geschaffen. Sie haben Milliarden von Rupien. Sie werden von arabischen Ländern finanziert. Diese Kräfte lieben die Taliban und verurteilen Selbstmordanschläge nicht.“ Pakistan führe "Krieg gegen sich selbst“, so der Ex-Minister.
Als eine Kommunikationspanne im vergangenen November zum Tod von 24 pakistanischen Soldaten an der Grenz zu Afghanistan im "friendly fire“ einer US-Einheit führte, stürzten die bilateralen Beziehungen noch weiter ab. Iqbal Haider: "Das hat den US-pakistanischen Beziehungen erheblich mehr geschadet als die Tötung von bin Laden". Der Zwischenfall führte zum Boykott der Bonner Afghanistan-Konferenz durch Islamabad. Pakistan schloss bis auf weiteres die Grenzübergänge nach Afghanistan für NATO-Transporte.
Denkwürdige Parlamentsdebatte
Es wird wahrscheinlich Monate dauern, aber Islamabad und Washington werden ihren Weg aus diesem Tief finden. Beide Seiten sind aufeinander angewiesen: Pakistan auf Washingtons zivile und militärische Finanzhilfen, Washington auf Pakistans Mitarbeit bei der Bekämpfung von Taliban, um eine Stabilisierung Afghanistans zu erreichen und damit einen geordneten US-Abzug zu ermöglichen.
Aber in Pakistans Innenpolitik hat sich einiges grundlegend geändert. Außenministerin Hina Rabbani Khar erklärte vor kurzem, die gegenwärtige Krise habe den traditionellen Einfluss der Militärs auf die Außen- und Sicherheitspolitik geschwächt. Als Beweis führt sie sowohl die Verbesserungen der Beziehungen zu Indien als auch die Parlamentsdebatte über die Beziehungen zu den USA an. Die Debatte vor zwei Wochen war insofern ein Novum, weil Abgeordnete über die bilateralen Beziehungen zu Washington debattierten, ein Thema, das bisher den Militärs vorbehalten war.
Wenn die Drohnenangriffe eingestellt würden und Washington sich für den Angriff auf die pakistanischen Soldaten entschuldige, könnten die NATO-Nachschubwege wieder geöffnet werden, so das Votum der Abgeordneten. Das mag Wunschdenken sein. Aber allein die Tatsache, dass Abgeordnete sich nun auf dieses Gebiet wagen und die Außenministerin öffentlich darüber redet, zeigt, dass vieles in Pakistan seit der Tötung Bin Ladens durch die USA in Bewegung geraten ist.