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Politik

Zu großes Montenegro oder zu kleines Serbien?

Norbert Mappes-Niediek
31. August 2020

Bei der Parlamentswahl in Montenegro haben die regierenden Sozialdemokraten herbe Verluste verzeichnet. Jetzt muss die Partei des Präsidenten Milo Djukanović befürchten, die Macht zu verlieren.

Wahlen in Montenegro - Präsident Milo Djukanović
Wahlen in Montenegro - Präsident Milo DjukanovićBild: Reuters/S. Vasiljevic

Land zwischen Ost und West? Treuer Verbündeter für EU und NATO? Spielfeld eines Autokraten und seiner Familie? Über Montenegro lässt sich vieles Richtige sagen. Zwei Dinge werden dabei meistens außer Acht gelassen: die Größe des Landes und sein Verhältnis zu Serbien und den Serben - das wirkliche, nicht das politisch behauptete.

Montenegro ist mit seinen 620.000 Einwohnern so groß wie Luxemburg oder wie Düsseldorf. Jeder kennt jeden: Bezogen auf die Minderheit der im öffentlichen Leben stehenden Personen darf man den Spruch ruhig wörtlich nehmen. Ärger noch: Anders als in dem kleinen EU-Land oder in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt zieht hier niemand zu. Man hat an der einzigen Universität des Landes in denselben Seminaren gesessen, ist meist auch auf dasselbe Gymnasium gegangen und war oft schon im selben Kindergarten.

Autokorso in der Hauptstadt Podgorica: Opposition feiert das Wahlergebnis Bild: Reuters/G. Tomasevic

Korruptes Klientelsystem

Abstrakte Regeln und neutrale Institutionen haben in so kleinen Gemeinschaften naturgemäß einen schweren Stand. Persönliche Beziehungen sind immer wichtiger. Das gilt nicht nur auf dem Balkan - auch wenn das Problem in Gesellschaften mit engen Familienbanden, wie überall in der Region, noch eine besondere Note erhält. Um große Länder zu verstehen, genügt es, deren Regeln zu kennen. Kleine Länder dagegen sind undurchschaubar - ein Gesetz, an dem die Europäische Kommission, wenn es um Montenegro geht, regelmäßig scheitert.

Das korrupte Klientelsystem, das der gegenwärtige Präsident, Vater des Vaterlandes, mächtige Parteichef und Langzeit-Premierminister Milo Djukanović jahrzehntelang so souverän dirigiert hat, ist älter als er, und es wird ihn gewiss überleben. Von den drei losen Parteienbündnissen, die sich jetzt anschicken, die Nachfolge des Systems Djukanović anzutreten, hat überhaupt nur das kleinste einen Begriff davon, was es heißt, eine Gesellschaft nach neutralen, allgemeinverbindlichen Regeln zu organisieren. Wahrscheinlicher als ein großer gesellschaftlicher Umbruch ist das Weiterleben des Systems ohne Djukanović, und noch wahrscheinlicher die Einbeziehung des angeschlagenen Präsidenten in ein neues, größeres und offeneres, aber kaum weniger korruptes System.

Ambivalentes Verhältnis zu Serbien

Das zweite Missverständnis betrifft das Verhältnis zu Serbien. Djukanović hat sein Land 2006 gegen erheblichen Widerstand in die Unabhängigkeit geführt. Von den Montenegrinern, die damals gegen die Unabhängigkeit waren, definieren sich die meisten seither als Serben; sie bilden nach den gängigen Kriterien keine ethnische, sondern eine politische Minderheit. Der bis heute nicht überwundene Gegensatz täuscht darüber hinweg, dass ganz Montenegro, Mehrheit wie Minderheit, zum zehn Mal größeren Nachbarland ein ambivalentes Verhältnis pflegt. Serbien ist nicht wirklich Ausland; wer nach Belgrad zieht, ist dort kein Fremder. Auch für bewusste Montenegriner bleibt der Nachbar wichtig - mindestens als Reibebaum oder Alter ego, heimlich aber auch als Maßstab, als Vorbild oder als Backup-Lösung, wenn die eigene Führung zu selbstbewusst wird. Wer aus dem System Djukanović herausfällt, geht zunächst einmal nach Serbien.

Montenegro: Proteste der serbisch-orthodoxen Kirche gegen das umstrittene Kirchengesetz (Mai 2020)Bild: Dijana Savović

Für einen eigenen Kosmos wollen die meisten Montenegriner ihre Nation nicht halten. Diese Erkenntnis hat der sonst so geschickte Djukanović missachtet, als er gegen die serbisch-orthodoxe Kirche in seinem Land vorging und die montenegrinisch-orthodoxe Kirche unterstützte, die sich als unabhängige Kirche der Montenegriner versteht. Die geplante Enteignung der serbisch-orthodoxen Kirchengüter war für viele Wähler ein weiteres Zeichen, dass ihr Präsident die totale Macht anstrebte. Die aber trauten sie ihm nicht zu.

Die Europäische Union tut gut daran, in ihrem Verhältnis zu Montenegro Gelassenheit walten zu lassen und anzuerkennen, dass für den Kleinstaat andere Regeln gelten als für seine drei bis zehn Mal größeren Nachbarn. Das heißt nicht, dass Europa beide Augen zudrücken darf, wenn Gewalt ausgeübt wird, wenn Kritiker verprügelt oder unliebsame Journalisten eingesperrt werden. Nur wird die EU-Kommission nicht, anders in Serbien, dann ein Justizsystem fordern können, in dem solche Dinge nicht mehr vorkommen. Besser, sie schickt den Außenminister eines mächtigen EU-Landes mit der klaren Botschaft: Das geht so nicht! Die Verhältnisse im kleinen Montenegro mögen schwer durchschaubar sein. Die Sprache der Macht aber wird gut verstanden.