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Zugunglück in Griechenland: Wut auf das politische System

13. März 2023

Das Zugunglück von Larissa hat ein politisches und soziales Erdbeben ausgelöst. Die Trauer ist in Wut auf die Regierung umgeschlagen. Die bemüht sich wenige Wochen vor den Wahlen um Schadensbegrenzung.

Griechenland | Demonstration wegen Zugunglück in Thessaloniki
Hunderttausende haben in Griechenland in den vergangenen Tagen gegen die Vernachlässigung der Infrastruktur protestiert - hier in Thessaloniki am 8.3.2023 Bild: Florian Schmitz/DW

"57 Tote" steht in blutroter Farbe auf einem Aufkleber, den sich eine Demonstrantin auf ihren Pullover geklebt hat. Jeder hier in Thessaloniki, Griechenlands zweitgrößter Stadt, versteht sofort, was gemeint ist: Die Zahl steht für die Todesopfer der verheerenden Zugkatastrophe von Tempi, einem Dorf in Nordgriechenland. Am 28. Februar 2023 waren dort, in der Nähe der Stadt Larissa, zwei Züge mit höchster Geschwindigkeit zusammengeprallt.

Die 58-jährige Demonstrantin ist eine der Hunderttausenden von Menschen, die sich am Mittag des 8. März in über 50 Städten Griechenlands auf den Straßen versammelt haben.

Demonstranten in Thessaloniki protestieren am 8.03.2023 gegen die Politik, die das Eisenbahnsystem jahrelang vernachlässigt hatBild: Murad Sezer/REUTERS

Für sie und die etwa 20.000 Menschen, die dicht gedrängt im Zentrum von  Thessaloniki stehen, handelt es sich bei der Tragödie um politisches Totalversagen: "Das zeigt doch, dass alle, die regieren und regiert haben, nicht unser Wohl im Kopf haben, sondern nur ihre eignen Gewinne. Dieses Verbrechen sagt doch alles", sagt sie entrüstet.

Das Wort Verbrechen liest man überall auf den Plakaten der Demonstrierenden. Auf vielen Bannern steht das Wort "Mörder" geschrieben. Doch der Protest richtet sich nicht nur gegen die derzeitige Regierung, sondern auch gegen ihre Vorgänger. Menschen jeglicher politischer Couleur und aller Altersgruppen demonstrieren gemeinsam und sind sich einig: Das politische System in seiner Gesamtheit hat die Toten von Tempi zu verantworten.

Chronisch unterfinanziert

Die Zugtragödie scheint ein Fass zum Überlaufen gebracht zu haben. Der Regierung des konservativen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis kommt die Empörung in der Bevölkerung nur wenige Wochen vor den Wahlen alles andere als gelegen. Von den großen Versprechen über Fortschritt und Modernisierung, mit denen Mitsotakis im Sommer 2019 die Macht übernommen hatte, ist nichts geblieben. Die Hoffnungen, die bei vielen Griechen mit seinem Machtantritt verbunden waren, sind nunmehr der Entrüstung und Enttäuschung gewichen. Nicht Politiker ernten in diesen Tagen Applaus, sondern Gewerkschafter wie Thodoris Varidakis. Bei der privatisierten griechischen Eisenbahngesellschaft Hellenic Train ist er für die Wartung der Züge zuständig und macht seit Jahren auf die Missstände aufmerksam.

Gewerkschafter Thodoris Varidakis ist Mechaniker beim Zugunternehmen Hellenic Train. Er kritisiert: "Sicherheitsmängel waren hinlänglich bekannt."Bild: Florian Schmitz/DW

Endlich hören die Menschen ihm zu, als er auf der Bühne vor den Demonstrierenden über die vielen Versäumnisse spricht, die laut seiner Beurteilung zeigen, dass für seinen Arbeitgeber nicht Sicherheit, sondern Kostenminimierung an erster Stelle steht. Im Gespräch mit der DW sagt er, dass das Unternehmen chronisch unterfinanziert und unterbesetzt sei. Alle hätten das gewusst und nichts unternommen. Politische Gesten aus Athen im Nachhall der Katastrophe hält er für eine Farce: "Es reicht nicht aus, dass die Regierung einfach mit dem Rücktritt eines Ministers reagiert. Am ersten Tag hat der Ministerpräsident mit dem Finger auf den Bahnhofsvorsteher gezeigt und ihm die Schuld in die Schuhe geschoben", sagt er wütend.

Politisches Kollektivversagen

Thodoris Varidakis unterstreicht, dass keine regierende Partei der letzten 20 Jahre sich mit Blick auf die 57 Toten von Tempi in Unschuld wiegen könne. Nicht nur die derzeit regierende Nea Dimokratia, sondern auch die sozialdemokratische PASOK und das Linksbündnis des ehemaligen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras hätten als Regierungsparteien nicht die nötigen Schritte unternommen, um Sicherheit im Transportwesen zu gewährleisten: "Wettbewerbsfähigkeit steht über Sicherheit und Gesundheit", so Varidakis. Außerdem warnt er, dass auch andere Bereiche des Transports, wie Busse, Flugzeuge oder Schiffe, sicherheitstechnisch vernachlässigt wurden.

In Athen kam es bei Demonstrationen nach dem Zugunglück von Larissa zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der PolizeiBild: Alexandros Avramidis/REUTERS

In den griechischen Medien gibt es fast täglich neue Enthüllungen, die den katastrophalen Zustand des Bahnsystems ans Licht bringen. Die konservative Tageszeitung Kathimerini berichtet von Fehlern im Zuge von Modernisierungsarbeiten des automatisierten Signal- und Betriebssytems, die bereits seit 2018 bekannt sind. Mit modernen Sicherheitssystemen, die auch auf der Unfallstrecke zwar seit langem installiert, allerdings nicht in Betrieb waren, werden Fehler durch menschliches Versagen erkannt und behoben. Die Kathimerini schlussfolgert, dass bei richtiger Implementierung des Systems "keine Toten zu beklagen wären" und "die aufeinanderfolgenden Regierungen sich dem Problem gegenüber gleichgültig zeigten".

"Ich fühle mich nicht sicher"

Für viele Menschen in Griechenland ist das Zugunglück zu einem Symbol von Misswirtschaft und sukzessiven Fehlentscheidungen einer politischen Elite geworden, unter denen die vielen Alltagsprobleme des Landes allenfalls kosmetische Behandlungen erfahren haben. Schlechte Straßen, veraltete Busse, überlastete Stromnetze: In Griechenland nehmen die Menschen diese Mängel zumeist zähneknirschend hin, ohne Vertrauen darauf, dass der Staat sich dieser Probleme annehmen wird. Die Zugkatastrophe von Tempi aber hat das Land aus dem Schlaf der kollektiv-akzeptierten Resignation gerissen. 57 Tote - so etwas lässt sich aus der Liste des politischen Versagens nicht einfach herausretuschieren.

"Ruf mich an, wenn (falls) Du ankommst" - diese SMS an eines der Opfer ist in Griechenland zum Sinnbild der Zugkatastrophe gewordenBild: Florian Schmitz/DW

"Ich fühle mich in meinem eigenen Land nicht sicher", sagt die 20-jährige Studentin Alexia Athanasiou aus Larissa. In einem Video, das in den Social Media kursiert, findet sie Worte, mit denen sie das ganze Land bewegt: "Wir sind alle schuld, dass wir immer wieder dieselben Leute wählen, die das Land zerstören. Sie bringen mich dazu, mein eigenes Land zu hassen." Im Interview mit der DW beklagt Alexia, dass viele der Opfer Studenten waren: "Sie töten unsere Zukunft", sagt sie wütend. "Wie kann es sein, dass die Regierungen das Land in diesen Zustand gebracht haben?" Trotz allem will sie ihren Glauben an die Demokratie nicht aufgeben. Bei den anstehenden Parlamentswahlen wird sie zum ersten Mal ihre Stimme abgeben und hofft so auf politische Konsequenzen.

Folgen für die Wahlen

Wann genau die Wahlen in diesem Jahr stattfinden, ist weiterhin unklar. Nachdem zunächst der 9. April im Gespräch war, rechnet man nunmehr mit dem 21. Mai oder dem 2. Juli. In den ersten Umfragen seit dem Zugunglück verliert die Partei von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis knapp drei Prozentpunkte und fällt unter die 30-Prozentmarke. SYRIZA unter Alexis Tsipras kann von diesen Stimmen nicht profitieren und bleibt bei 25 Prozent. Für Wolfango Piccoli, politischer Berater mit Schwerpunkt auf Risiko- und Krisenmanagement, hat Mitsotakis jedoch an Glaubwürdigkeit verloren: "Die Regierung hat auf diese Krise von Anfang an falsch reagiert, indem sie menschliches Versagen als Unfallursache kommunizierte. Dann ist zwar der Transportminister zurückgetreten, aber mehr ist nicht passiert. Ich glaube, dass die Regierung die öffentliche Wahrnehmung falsch eingeschätzt hat."

Nun versuche Ministerpräsident Mitsotakis zurückzurudern: "Er hat sich auf Social Media entschuldigt und eine Untersuchung angekündigt, die allerdings von einer Kommission durchgeführt wird, die der Transportminister selbst berufen hat, ohne dabei zumindest die Opposition zu konsultieren", so Piccoli gegenüber der DW. "Wir haben das alles schon öfter gesehen, z.B. bei den Abhörskandalen. Auch da war das Krisenmanagement der Regierung sehr schlecht." Die anstehenden Wahlen sieht Piccoli für Mitsotakis nun als hürdenreiche Herausforderung: "Sie müssen den Ärger der Menschen beschwichtigen, ohne sich dabei zu sehr in den Vordergrund zu drängen. Der Handlungsspielraum ist extrem eingeschränkt."

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