Nach da oder nach da?
15. Dezember 2009Wir ollen europäischen Egozentriker: wir orientieren uns an uns selbst, wenn wir uns räumlich orientieren. Wir sagen rechts, links, vorne oder hinten und gehen dabei von uns selbst als Fixpunkt aus. Angehörige des Nomadenstammes der "Hai II om" aus Namibia verwenden bei Ortsbezeichnungen die Himmelsrichtungen. Sie sagen zum Beispiel "der Löffel befindet sich nördlich der Schüssel" oder "da ist eine Schlange bei deinem nördlichen Bein“.
Ein deutsch-niederländisches Forscherteam der Max-Planck-Institute für Psycholinguistik Nijmegen und evolutionäre Anthropologie Leipzig hat für die Orientierungsstudie 85 Kinder miteinander verglichen. 50 deutsche Kinder und 35 vom Stamm der "Hai II om" zwischen vier und zwölf Jahren. Allen Kindern brachten sie einen einfachen Tanz bei.
Tanzstunde mit Richtungswechsel
Der Tanzlehrer stand neben dem Kind und machte die Bewegungen vor – er bewegte seine gefalteten Hände zunächst nach rechts, dann nach links und zweimal nach rechts. Ein R-L-R-R Tanz sozusagen. Sobald das Kind den Tanz beherrschte, drehte der Lehrer es um 180 Grad, so dass es jetzt seitenverkehrt stand. Dann wurde das Kind aufgefordert den Tanz zu wiederholen.
Mehr als 90 Prozent der deutschen Kinder tanzten jetzt wie gehabt die R-L-R-R Reihenfolge, aber 73 Prozent der Kinder des namibischen Nomaden-Stammes tanzten eine L-R-L-L Reihenfolge. Und zwar automatisch, da sie sich an der Himmelsrichtung orientierten und die bleibt ja immer gleich. Beim Üben entsprach "West" noch unserer europäischen Bewegung "rechts" – nach der Drehung entsprach "West“ dann aber der Bewegung "links".
Verstand zum Formen
Die Forscher hatten genau das erwartet, waren aber überrascht, dass es überhaupt keinen Unterschied zwischen älteren und jüngeren Kindern des Nomadenstammes gab. In weiteren Versuchen wollen sie jetzt herausfinden, ab welchem Alter Kinder die räumliche Orientierung von Eltern oder anderen Bezugspersonen übernehmen. Menschliche Wahrnehmung unterscheide sich mehr als bisher angenommen von einer Kultur zur anderen, so Daniel Haun vom Max-Planck-Institut in Leipzig. "Sogar alltägliche Aufgaben, von denen wir uns gar nicht vorstellen können, sie jemals anders zu tun, werden an anderen Orten der Welt auf eine andere Art und Weise gelöst."
Kulturen wie die "Hai II om" seien ein Schlüssel um die Formbarkeit des menschlichen Verstandes zu verstehen. Die Forschergruppe will nun die Unterschiede in den verschiedenen Bereichen der menschlichen Kognition dokumentieren und die psychologischen Mechanismen bestimmen, die diese Vielfalt möglich machen.
Autorin: Marlis Schaum/Max-Planck-Gesellschaft www.mpg.de/ ddp
Redaktion: Ulrike Wolpers