Wer tickt wie im vereinten Deutschland?
2. Oktober 2018Westfalen sind stur und wortkarg, behaupten manche. Ein passender Witz bestätige genau dies, so Dagmar Hänel augenzwinkernd: "Geht ein Westfale durch Köln. Auf seiner Schulter sitzt ein Papagei. Kommt ihm ein Kölner entgegen und fragt: 'Kann der sprechen?' Fragt der Papagei zurück: 'Woher soll ich das denn wissen.'?"
Ungezählte solcher Witze kursieren in den 16 Bundesländern über die jeweils anderen. Überall werden Menschen nicht nur auf diese Weise bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, die sie charakterlich einordnen, klassifizieren und kategorisieren sollen. Nicht nur die Westfalen, sondern auch die Norddeutschen sind angeblich stur, die Bayern eher von grober Natur, die Schwaben fleißig und sparsam, die Rheinländer besonders fröhlich und aufgeschlossen, die Sachsen ausgesprochen selbstbewusst. Aber stimmt das überhaupt? Und wie sind jene Menschen zu charakterisieren, die aus aller Welt gekommen sind, um hier eine neue Heimat zu finden?
Exakt für solche Fragen ist Dr. Dagmar Hänel (*1969) Expertin. Sie leitet den Bereich Volkskunde am LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte in Bonn.
DW: Frau Hänel, haben die Menschen in den 16 Bundesländern tatsächlich noch Eigenarten, die man nur in ihrer Region finden kann? Eigenarten, die dann alle haben und die klar einer Region zuzuordnen sind?
Die gibt es nicht, denn Stereotype sind immer Verallgemeinerungen. Das heißt: Man schließt von wenigen, manchmal auch vom Einzelfall auf alle. Beispiel: Den Sachsen gibt es nicht, alleine schon deshalb nicht, weil mindestens 50 Prozent aller Menschen in Sachsen Frauen sind.
Der Sachse ist auch nicht rechtsextrem, nur weil in der Vergangenheit in Sachsen vermehrt Menschen mit politisch rechter Gesinnung negativ aufgefallen sind. Da merken wir schon ansatzweise, wie diese Stereotype funktionieren, denn man verallgemeinert und schafft damit Bilder. Diese Bilder, beispielsweise von einer Gruppe, haben eine unglaubliche Wirkmächtigkeit.
Gibt es darunter auch "antike" Bilder?
Manche dieser Bilder sind sehr alt, die tragen wir schon seit 200, 300, 400 Jahren mit uns herum. Manche verändern sich im Laufe der Zeit, können aber, weil sie so mächtig und tief in unserem kulturellen Gedächtnis sitzen, ganz schnell neu aktiviert werden und funktionieren dann wieder. Wenn wir beispielsweise antisemitische Stereotype anschauen, dann sind die extrem schnell wieder aktivierbar, wie wir aktuell im gesellschaftlichen Diskurs sehen.
Kann man also Eigenarten nirgendwo in Deutschland verallgemeinern?
Nein, die kann man nicht in Deutschland und nirgendwo auf der Welt verallgemeinern, denn Menschen sind Individuen und damit sehr unterschiedlich. Natürlich leben wir alle in einem bestimmten kulturellen Kontext, der eine gewisse Rahmung schafft, aber nichtsdestotrotz agiert jeder Einzelne sehr individuell damit. Und das zu verallgemeinern, ist ganz schwierig. Man würde sich selber ja auch nicht so gerne verallgemeinern lassen, tut das aber mit einer ganz großen Selbstverständlichkeit überall anders.
Warum machen wir das?
Wir tun das deswegen, weil es so gut funktioniert und weil es diese sehr komplexe Welt für den Moment ein Stück überschaubarer macht. Wenn ich auf der Autobahn unterwegs bin und vor mir der komische Kleinwagen irgendwie merkwürdig fährt, dann fühle ich vielleicht mein Stereotyp von der "Frau am Steuer" bestätigt. Diese Stereotype funktionieren und machen unseren Alltag überschaubar, handhabbar. Sie sind dann aber auch oft Grundlage von Entscheidungen. Und wenn man sich nicht immer wieder bewusst macht, dass diese Stereotype Bilder und Konstruktionen sind, also nicht die Realität, dann verschiebt sich das Ganze in Richtung Vorurteil. Und dann können diese Stereotype sehr gefährlich werden.
Ich bin Rheinländer, bin auch gerne Rheinländer, weil ich meine, in einer schönen Heimat zu leben. Deshalb glaube ich schon, dass es in vielen Regionen bei Einheimischen eine regionale Identität gibt. Wie sehen Sie das?.
Ja, das ist richtig. Das ist die positive Seite der Stereotypen, dass beispielsweise in den Regionen oder auch in den Städten das Bild von sich selber, das Auto-Stereotyp oft sehr positiv ist. Das ist etwas, mit dem man sich identifizieren mag. Man gehört dazu. Man gehört dazu, wenn man Karneval feiern geht oder wenn man im Dorf aufs Schützenfest geht, weil man da die Menschen trifft, die man kennt. Man kommt ins Gespräch, in einen Austausch. Das ist das kommunikative Positive, wozu diese regionalen Identitäten, die Auto-Stereotype ganz wichtig sind.
Wie ist das bei Ihnen persönlich?
Ich komme aus Westfalen, bin hier im Rheinland eine Zugewanderte, eine Fremde. Aber durch identitätsstiftende Feste, wie zum Beispiel den Karneval, durch bestimmte Formen von Nachbarschaft kommt man rein in die Region, in die Gesellschaft, ran an die Menschen und gehört dann dazu. Damit eignet man sich ein Stück weit eine Region, einen Wohnort, eine Stadt an und macht sich selber zu einem Teil.
Kann man also sagen, dass es die Traditionen sind, die bei Menschen einer Region Identität bilden?
Traditionen haben genau diese Funktion, dass sie identitätsstiftend sein sollen. Es ist immer auch die Frage: Wer überlegt sich das eigentlich? Denn natürlich entsteht das nicht einfach so, sondern es entsteht immer in einem bestimmten historischen Kontext.
Das, was wir heute als identitätsstiftende Tradition anschauen, das Oktoberfest in München, die Trachten in Bayern, den Karneval im Rheinland - das sind Feste, die vor allem im 19. Jahrhundert entstanden sind und zwar in einem Kontext der entstehenden Nation. Da geht es sehr klar darum, Identitätsangebote für die Menschen zu schaffen, um sich in einem größeren Kollektiv positiv zu identifizieren.
Nun gibt es ja in Deutschland auch eine starke Binnenmigration. Menschen aus strukturschwachen Gegenden pendeln die Woche über dorthin, wo viel Arbeit ist. Nach der Vereinigung Deutschlands im Jahr 1990 gibt es eine starke Wanderung vom Osten in den Westen. Inwieweit ist so etwas prägend?
Diese Migrationsbewegungen verändern die Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen. Migranten kommen nicht nur als "unbeschriebene Blätter" in eine neue Lebensumgebung. Jeder von uns trägt einen unsichtbaren "kulturellen Rucksack" mit sich. Darin ist etwa das, was wir in unserer Kindheit gelernt haben, Traditionen, Feste, Sprache, Essen.
Und schon diese Aufzählung zeigt: Das sind genau solche Punkte, die sich dann auch unglaublich für Stereotypisierungen eignen. Auf der einen Seite negativ, auf der anderen Seite aber auch positiv. Die regionale oder nationale Küche kann beispielsweise als Identitätsanker funktionieren. Das bringt jeder von uns mit, egal von wo wir kommen. Es ist immer nur die Frage, wie wir im Einzelfall dieses kulturelle Gepäck in die neue Gesellschaft einbringen oder auch nicht einbringen.
Aktuell wird die Migration von Ausländern in Deutschland stark diskutiert. Wie kann sich jemand kulturell akklimatisieren, der aus dem Ausland kommt?
Es ist unerlässlich, dass ein Zugewanderter zunächst die deutsche Sprache erlernt. Sprachkompetenz hat eine Schlüsselfunktion für alle Bereiche des Lebens. Das Akklimatisieren funktioniert immer da, wo Menschen, Fremde und Einheimische miteinander ins Gespräch kommen, wo man auch mal über Unterschiede redet, wo keine Bedrohungsszenarien aufgebaut werden.
Schwerer wird es in solchen Zusammenhängen, wo Einheimische anfällig sind für Angst- oder Bedrohungsszenarien, die über Politik oder auch über manche Medien aufgebaut und teilweise inszeniert werden. Krisensituationen sind immer solche Situationen, wo Menschen verletzlich, angreifbar, verunsichert sind und deshalb für solche Angstszenarien anfälliger sind.
Kann ein Migrant, ein Kriegsflüchtling nur dann in Deutschland glücklich werden, wenn er den Großteil seines kulturellen Rucksacks nicht auspackt?
Nein, ich glaube, man kann ein ganzes Stück seiner kulturellen Identität beibehalten. Ich glaube, das ist ein sehr reflexiver Prozess, wo man sich in Ruhe mit diesem Rucksack hinsetzt und ihn durchsucht: Was ist das, was mir wirklich wichtig ist? Was ist das, was ich brauche? Und das tut man, glaube ich, immer wieder - man räumt auf und packt neue Dinge rein in den Rucksack. Der ist ja nicht statisch, sondern der ist veränderbar - auch in ganz aktuellen Situationen veränderbar. Ich glaube nicht, dass man seine Vergangenheit komplett hinter sich lassen muss, sondern ich glaube, dass man die konstruktiv einbringen kann.
Kommen wir noch mal zu den Deutschen: Gibt es eine Charakterisierung, die auf alle oder fast alle zutrifft?
Ich glaube, Deutschland hat inzwischen eine echte Tradition, was Demokratie und Erinnerungskultur angeht. Das ist etwas, was uns auch von anderen europäischen Ländern ein Stückchen unterscheidet. Wir sind Demokraten, sind Europäer und wir pflegen ganz regelmäßig eine gute Form von Erinnerungskultur in Bezug auf das sehr schmerzhafte Kapitel der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Das tut der größte Teil unserer Gesellschaft mit großer Selbstverständlichkeit und da bin ich persönlich sehr stolz drauf.
Haben Sie angesichts dieser Erkenntnisse weniger Angst, wenn Sie gewisse rechte und rechtsextreme Strömungen betrachten, die zurzeit versuchen, sich Bahn zu brechen?
Natürlich macht es mir Angst, diese Strömungen zu sehen - gerade unter der Perspektive der Stereotypen und der wissenschaftlichen Erforschung dieser Stereotypen. Es passiert genau das, was wir Wissenschaftler wissen, dass deren Symbole, deren Bilder ganz, ganz schnell wieder aktivierbar sind. Dass das in meinem eigenen Land passiert, berührt mich auch emotional.
Sind Sie dennoch guter Dinge, dass das demokratische Verständnis der Mehrheit als Gegengewicht stärker ist?
Ja, ich finde beispielsweise die Aktivitäten, die nach Chemnitz gerade online unter dem Hashtag "#Wirsindmehr" laufen, ganz wichtig. Die rechten Strömungen und Parteien sind eine sehr laute Minderheit, aber eine Minderheit. Und da die Mehrheit zu aktivieren, auch in ihrem Bewusstsein zu aktivieren, dass wir eine Demokratie haben, das ist etwas ganz Wertvolles.
Das Interview führte Klaus Krämer.