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Wie Europas Armeen junge Menschen rekrutieren

Andreas Noll
28. August 2025

Deutschland holt die Wehrpflicht in abgespeckter Form zurück. Andere NATO-Staaten haben nie aufgehört, junge Männer und Frauen an die Waffe zu rufen. Ein Überblick, wie die Streitkräfte ihre Nachwuchsprobleme angehen.

Bundeswehr-Soldaten auf dem Appellplatz
Mit dem "Neuen Wehrdienst" zurück zur aktiven Wehrpflicht?Bild: Sina Schuldt/dpa/picture alliance

2011 setzte Deutschland die Wehrpflicht aus. Nun führt die Bundesregierung einen "Neuen Wehrdienst" ein, der sich mit dem Fragebogenmodell an Schweden orientiert und zunächst auf Freiwilligkeit setzt. Ab dem 1. Juli 2027 werden jedoch alle Männer eines Jahrgangs zur verpflichtenden Musterung herangezogen - Frauen können freiwillig teilnehmen. Wer sich zum Wehrdienst bei der Bundeswehr meldet, muss ein Bewerbungsverfahren durchlaufen und erhält den Status "Soldat auf Zeit" (SaZ). Damit sind die Rekruten finanziell bessergestellt als im bisherigen Freiwilligen Wehrdienst, Prämien sollen zudem längere Verpflichtungen attraktiv machen.

Rekrutenausbildung bei der BundeswehrBild: Oliver Berg/dpa/picture alliance

Das Modell enthält eine eingebaute Pflicht-Option: Sollte sich die Sicherheitslage zuspitzen oder zu wenige Freiwillige gefunden werden, kann die Bundesregierung per Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundestags eine verpflichtende Einberufung beschließen. Die Wehrerfassung wird deshalb reaktiviert, digitalisiert und modernisiert.

Nach ihrer Dienstzeit bleiben die jungen Männer (und Frauen) durch regelmäßige Reservedienste an die Armee gebunden. Für die NATO-Ziele ist dieser Reserve-Aufwuchs zentral. Die Bundeswehr will auf diese Weise ihre personellen Lücken schließen.

Frankreich - Nationaldienst light, starke Reserve

Frankreich hat die klassische Wehrpflicht bereits 1996 unter Staatspräsident Jacques Chirac abgeschafft. Präsident Emmanuel Macron führte 2019 den "Service National Universel" ein. Der SNU besteht aus einem einmonatigen Programm für Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren, das teilweise militärisch organisiert ist, aber auch soziale und bürgerschaftliche Inhalte umfasst. 

In Frankreich wird die Armee auch regelmäßig im Inneren eingesetztBild: Mark Baker/AP Photo/picture alliance

Immer wieder war von einer allgemeinen Pflicht die Rede, Macron selbst hatte das 2018 angekündigt. Doch inzwischen ist klar: Der SNU bleibt freiwillig. Weder die Mittel noch die politische Unterstützung reichen für eine flächendeckende Einführung. Paris setzt stattdessen auf den Ausbau der Reserve: Von 40.000 auf 80.000 Kräfte soll sie wachsen und die Berufsarmee im Ernstfall schnell verstärken.

Großbritannien - Berufsarmee mit Reservisten als Lückenfüller

Die Wehrpflicht wurde 1960 abgeschafft. Großbritannien hält seither an seiner Berufsarmee fest. Doch das Traditionsmodell leidet unter chronischem Nachwuchsmangel. Militäranalytiker warnen gleichwohl, dass die Wiederkehr der Wehrpflicht weder effizient noch praxistauglich sei. Stattdessen sei der Ausbau der Reservekräfte die sinnvollere Reaktion auf steigende sicherheitspolitische Anforderungen durch die russische Bedrohung.

Polen - Reservisten, Territorialverteidigung und Wehrunterricht

Polen verzichtete 2008 auf die Wehrpflicht, rüstet aber seit der russischen Invasion in der Ukraine so massiv auf wie kein anderes EU-Land. Die Armee soll bis 2035 auf 300.000 Soldaten anwachsen - inklusive 50.000 Mann der neu geschaffenen Territorialverteidigung.

Polnische Soldaten bei einer Militärübung der NATOBild: WOJTEK RADWANSKI/AFP/Getty Images

Ein zweiter Pfeiler ist die Reserve: Die Kenntnisse ehemaliger Wehrpflichtiger werden systematisch aufgefrischt, neue Rekruten über Kurzzeitausbildungen gebunden. Und: Polen setzt auf Wehrbildung in Schulen. In zahlreichen "militärischen Vorbereitungsklassen" lernen Jugendliche ab 14 Jahren Geländemärsche, Schießübungen und Disziplin. Für die Armee ist das ein Nachwuchspool und für den Staat ein Instrument patriotischer Erziehung.

Schweden - Zwangsdienst für Kontingente

2010 abgeschafft, 2017 zurückgeholt: In Schweden müssen sich alle 18-Jährigen online registrieren und persönliche Angaben machen. Ein Teil wird anschließend zur Musterung eingeladen. Jährlich legt die Armee fest, wie viele Rekruten gebraucht werden - meist zwischen fünf und zehn Prozent eines Jahrgangs. Dieses Kontingent wird zwangsverpflichtet, Männer wie Frauen. Wer freiwillig Dienst leisten will, hat bessere Chancen eingezogen zu werden. Wer nicht will, kann sich nicht immer entziehen.

Seit 2023 gilt zudem wieder eine zivile Dienstpflicht: Wer nicht bei der Armee landet, kann zum Beispiel im Rettungsdienst oder Katastrophenschutz eingesetzt werden.

Finnland - Wehrpflicht als Pfeiler der Gesellschaft

Finnland hat die Wehrpflicht nie abgeschafft. Alle Männer ab 18 Jahren müssen dienen, Frauen können sich freiwillig melden. Der Grundwehrdienst dauert zwischen sechs und zwölf Monaten, je nach Waffengattung. Rund zwei Drittel eines Jahrgangs leisten tatsächlich Militärdienst, was ein extrem hoher Wert im europäischen Vergleich ist.

Besonders ist, wie tief die Pflicht in die Gesellschaft eingebettet ist: Fast jeder finnische Mann gilt nach seinem Grundwehrdienst als Reservist und wird regelmäßig zu Übungen einberufen. So verfügt das 5,5-Millionen-Einwohner-Land im Ernstfall über eine Mobilisierungsstärke von mehr als 250.000 Soldaten. In Helsinki gilt das System nicht nur als militärische Notwendigkeit, sondern auch als integraler Bestandteil der nationalen Identität.

Norwegen - Prestige-Armee mit Gleichstellung

Norwegen führt seit 2016 Männer und Frauen gleichermaßen zur Musterung. Nur ein Bruchteil wird einberufen, was den Dienst in den Augen vieler Norweger prestigeträchtig macht. Neben der regulären Armee spielen Reservisten eine wachsende Rolle, um Engpässe zu vermeiden.

Dänemark - Wehrpflicht für Frauen ab 2026

Alle Männer ab 18 sind wehrpflichtig, ab 2026 auch Frauen. Der Grundwehrdienst soll von vier auf elf Monate verlängert werden. Offiziell können junge Menschen durch ein Losverfahren eingezogen werden. Tatsächlich melden sich seit Jahren mehr Freiwillige, als die Armee benötigt. Rund 4000 Rekruten werden jährlich gebraucht, oft bewerben sich fast doppelt so viele.

Damit ist die Wehrpflicht in Dänemark bislang vor allem ein Druckmittel im Hintergrund: Wer will, kommt zum Zug. Wer nicht will, wird so gut wie nie gezwungen. Mit der künftigen Ausweitung auf Frauen könnte sich dieses Kräfteverhältnis allerdings verschieben.

Österreich - wie früher in Deutschland

In Wien blieb die Wehrpflicht ununterbrochen in Kraft. Männer zwischen 18 und 35 leisten sechs Monate Militär- oder neun Monate Zivildienst. Frauen können freiwillig antreten. Die Debatte um Abschaffung flackert immer wieder auf, ist angesichts der geopolitischen Lage aber politisch tot. Auch Österreich, das nicht zur NATO gehört, setzt verstärkt auf eine Reserve, die über regelmäßige Übungen eingebunden bleibt.

Lettland - Rückkehr mit Ansage

Im baltischen Lettland kehrte ab 2023 die Wehrpflicht zurück. Alle Männer zwischen 18 und 27 sollen für elf Monate dienen, Frauen können freiwillig teilnehmen. Ab 2028 werden jährlich 7500 Männer eingezogen - die gleiche Zahl wie Berufssoldaten. Ersatzdienst ist möglich, aber ebenfalls in staatlichen Einrichtungen. Lettland koppelt Wehrpflicht und Reserve eng, um möglichst viele Bürger langfristig in Sicherheitsstrukturen einbinden zu können.

Litauen und Ukraine - Pflicht im Kriegsmodus

Litauen reaktivierte 2015 die Wehrpflicht und zieht jährlich rund 3500 Männer ein. Sie bleiben danach Teil der Reserve und dienen der Abschreckung.

Die Ukraine hat seit 2014 wieder eine Wehrpflicht, seit der russischen Vollinvasion 2022 können alle Männer von 18 bis 60 eingezogen werden. Millionen Ukrainer stehen unter Waffen, Millionen weitere gelten als Reservisten. 

Griechenland - Wehrpflicht mit Tradition

Alle Männer zwischen 18 und 45 dienen zwölf Monate. Wer verweigert, muss doppelten Zivildienst leisten. Grund sind die Spannungen mit der Türkei und die niedrige Geburtenrate. Reservistenübungen gehören fest zum System. Griechenland hält damit eine Art Volksarmee auf Standby.

Die türkischen Streitkräfte bestehen zu einem Großteil aus WehrpflichtigenBild: Umit Kozan/Depo Photos/ZUMA/dpa/picture alliance

Türkei - Wehrpflicht gegen Geld

Alle Männer zwischen 20 und 41 Jahren müssen in der Türkei mindestens sechs Monate Militärdienst leisten. Eine Besonderheit ist die sogenannte Bedelli Askerlik: Nach einem Monat Grundausbildung können Wehrpflichtige die restliche Dienstzeit durch eine einmalige Zahlung umgehen.

Aktuell beträgt die Gebühr umgerechnet rund 5800 Euro. Wer sich dieser Pflicht komplett entzieht, riskiert Geldstrafen oder sogar Gefängnis. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt es nicht.

Hinweis:

Die polnischen Streitkräfte sollen INKLUSIVE Territorialverteidigung auf 300.000 Soldaten anwachsen. Wir haben den Fehler zwischenzeitlich korrigiert und auch den Euro-Umrechnungskurs der türkischen Lira angepasst.