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Brasiliens Stern sinkt

Suzanne Cords, Astrid Prange28. Oktober 2013

Lange Zeit galt Brasilien als Vorzeigenation: Die Wirtschaft boomte, die Mittelschicht wuchs stetig. Doch jetzt schwächelt der Riese und das Volk geht auf die Straße. Der Aufschwung bekommt Risse.

Brasilianische Demonstranten mit Masken und Flagge SIMON/AFP/Getty Images)
Bild: CHRISTOPHE SIMON/AFP/Getty Images

Als im Juni die ersten Proteste das Land erschütterten, zeigte sich Präsidentin Dilma Rousseff sichtlich betroffen. Die ehemalige Guerilla-Kriegerin hat während der Diktatur Folter und Gefängnis überstanden und ihr ganzes Leben für ein freies und gerechtes Brasilien gekämpft. Und ausgerechnet gegen ihre Regierung demonstrierten die Menschen so zahlreich wie zu Zeiten der Militärherrschaft nicht mehr.

Einen Tag vor der Eröffnung des FIFA-Confederations Cup am 15. Juni waren 300.000 Menschen in fast allen großen Städten auf die Straße gegangen und hatten lautstark gegen Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr protestiert. Wer täglich mehrere Busse nimmt, um aus den Vororten zur Arbeit in die City zu kommen, muss sieben Euro für die Tickets bezahlen. Bei einem Mindestlohn von 250 Euro brachte die angekündigte Erhöhung das Fass zum Überlaufen. Der schwelende Unmut der Bevölkerung eskalierte.

Drängende Probleme

Doch das war erst der Anfang. Die Brasilianer wollen nicht mehr hinnehmen, dass sie hohe Steuern zahlen und dafür kaum Gegenleistungen bekommen. Das Straßennetz ist marode, gute öffentliche Schulen oder gar eine umfassende medizinische Versorgung sind Mangelware. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf Privatinstitute und bezahlt Ärzte aus der eigenen Tasche. Doch einem Großteil der Gesellschaft fehlen schlichtweg die finanziellen Mittel. Zwar ist die Mittelschicht in den letzten zehn Jahren stetig gewachsen, doch ebenso viele Brasilianer leben noch in drückender Armut.

"Gesundheit und Bildung statt WM" fordert dieser DemonstrantBild: picture alliance / AP Photo

Statt in die dringend benötigte Infrastruktur, Bildung und Gesundheitswesen zu investieren, stecken die Behörden astronomische Summen in neue Stadien für die Fußball-WM 2014. Die Mieten steigen ins Unermessliche, Favelas werden geräumt, um Stadtviertel vor dem Großereignis aufzumotzen. Bei aller Fußballverrücktheit wollen die Brasilianer sich das nicht mehr länger bieten lassen.

Ein teures Pflaster

Außerdem stieg die Inflationsrate zuletzt auf mehr als sechs Prozent und weckt bei vielen Brasilianern Erinnerungen an die 90er Jahre, als die Geldentwertung grassierte und das Gehalt von heute auf morgen nichts mehr wert war. Seit Jahresbeginn hat die Landeswährung Real fast ein Fünftel an Wert eingebüßt. Selbst wohlhabende Touristen aus dem Ausland überlegen mittlerweile zweimal, ob sie sich einen Urlaub unterm Zuckerhut leisten können. Für die vielen Millionen Brasilianer, die nur den Mindestlohn verdienen, gehört der tägliche Kampf ums Überleben zum Alltag.

Luisa Kratzheller lebt seit 30 Jahren in Deutschland. Einmal im Jahr besucht sie ihre Familie in Teresina im Bundesstaat Piaui, das letzte Mal im September 2013. "Ich wollte meinem Enkel ein Eis kaufen. Eine Kugel kostete 3 Euro. Im Supermarkt stand ich dann vor der Gemüsetheke, und eine Handvoll Bohnen war mit 2 Euro ausgezeichnet", schimpft sie. "Hier ist alles teurer als in Deutschland, das kann doch nicht wahr sein. Bohnen gehören zu den Grundnahrungsmitteln bei uns in Brasilien. Meine Familie kommt kaum noch über die Runden."

Die meisten Demonstranten waren friedlich, doch immer wieder kam es zu StraßenschlachtenBild: picture alliance/AP Photo

Gebremstes Wachstum

Die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt ist ins Straucheln gekommen und mit ihr die Mittelschicht. Eben noch ein Riese im Aufwind und Liebling der ausländischen Investoren, ist Brasilien auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Das Modell "konservative Wirtschaftspolitik kombiniert mit aggressiven Sozialprogrammen", von Ex-Präsident Lula durchgesetzt und von Rousseff weitergeführt, scheint auf Dauer nicht zu funktionieren, wenn eine schlechte Infrastruktur und eine überbordende Bürokratie den Fortschritt ausbremsen. 2010 wuchs das Bruttoinlandsprodukt noch um 7,5 Prozent, 2012 legte die Wirtschaft nur noch knapp ein Prozent zu. Und auch für 2014 schraubte Finanzminister Guido Mantega die Prognosen herunter.

Staatliche Gegenmaßnahmen sind bislang wirkungslos verpufft. Hinzu kommt, dass die hohe Kriminalität dem Land zu schaffen macht; die Mordrate liegt mit 50.000 Opfern fünfmal höher als in den USA. In den Favelas haben sich Parallelgesellschaften herausgebildet, in denen eigene Gesetze gelten. Trotzdem will das Volk willkürliche Polizeigewalt und die weit verbreitete Korruption in der Politik nicht mehr länger tolerieren.

Die Stimme des Volkes

Vor allem die Jugend und die Mittelschicht haben die Straße für sich entdeckt, um ihre Unzufriedenheit kundzutun. Bei den ersten Demonstrationen, noch das Beispiel der Türkei mit einem hart durchgreifenden Ministerpräsidenten Erdoğan vor Augen, hatten sich die Brasilianer gefragt, wie Rousseff auf die Proteste reagieren würde. Die Präsidentin ist beliebt, 2012 lag ihre Zustimmungsrate bei 72 Prozent, Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hatte sie als Wunschnachfolgerin gekürt. Und Rousseff gab sich souverän. Sie freue sich über die Proteste, die sie an ihre eigenen politischen Wurzeln in der Protestbewegung erinnerten: "Die Stimmen direkt von der Straße zeigen den wesentlichen Wert unserer Demokratie, dass die Menschen ihre Rechte einfordern." Die Stimme des Volkes sei ein Weckruf an alle Regierungsebenen, die Transportsysteme, Schulen und Krankenhäuser besser zu machen.

Präsidentin Dilma Rousseff war geschockt von den ProtestenBild: picture-alliance/dpa

Erste Schritte

Und tatsächlich nahmen die Gemeinden die Fahrpreiserhöhungen zurück, und der brasilianische Senat verabschiedete ein Gesetz, das Korruption als schwerwiegendes Verbrechen einstuft und das Mindeststrafmaß auf vier Jahre festlegt.

Auch im Parlament zeigte man sich gegenüber Reformen zunächst aufgeschlossen. Nach jahrelangem Widerstand stimmten die Abgeordneten unter anderem einer Regierungsvorlage zu, nach der künftig drei Viertel aller Gewinne, die bei der Erdölförderung erwirtschaftet werden, in das brasilianische Bildungssystem investiert werden. Die restlichen 25 Prozent sollen in den chronisch unterfinanzierten Gesundheitsbereich fließen. Mit einem 84 Millionen Dollar Programm will die Regierung mit Hilfe der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) die Ausbildung junger Menschen in der berüchtigen "Favela Cidade de Deus" in Rio de Janeiro finanzieren.

Und auch nachdem Zehntausende von Lehrern in Rio de Janeiro zwei Monate lang zum Streik aufriefen und immer wieder auf die Straße gingen, um höhere Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen einzufordern, kam es Ende Oktober zu einer Einigung: Die Lehrergehälter werden zwischen acht und 15 Prozent angehoben, verkündete der Oberste Gerichtshof in Brasília. Außerdem soll es 2014 neue Gehaltsverhandlungen geben.

Reformstau

Doch anderswo stockt der Reformeifer. Die versprochenen Milliardeninvestitionen in den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs lassen auf sich warten. Das vom Senat verabschiedete Gesetz zur Bekämpfung von Korruption hängt im Abgeordnetenhaus fest. Und als kürzlich 513 Volksvertreter in Brasília einen wegen Bestechung und Bandenbildung zu 13 Jahren Haft verurteilten Abgeordneten nicht sein Mandat aberkennen wollten, sank das Ansehen der Politiker auf einen historischen Tiefpunkt.

Nach den Massenprotesten im Juni demonstrierten am 7. September, dem Nationalfeiertag des Landes, erneut Hundertausende; dann streikten die Lehrer, und kurz darauf kam es zu Protesten gegen das Internationale Konsortium, das den brasilianischen Ölkonzern Petrobras bei der Ausbeutung gigantischer Ölvorkommen vor der Küste Brasiliens unterstützen soll. Die Vergabe der Förderkonzessionen war in Brasilien hoch umstritten; Gewerkschaften sprechen vom "Verkauf staatlichen Tafelsilbers", und Beschäftigte von Petrobras traten in einen unbefristeten Streik.

Aufräumen mit der KorruptionBild: Getty Images

Die Stimmung im Land ist aufgeheizt, der nächste Konflikt scheint vorprogrammiert. "Es geht immer um diesselben Themen, nämlich Korruption, Bildungspolitik, Gesundheitswesen und die steigenden Lebenshaltungskosten", erklärt Markus Fraundorfer vom Giga-Institut für Lateinamerika-Studien in Hamburg. "Wenn die Regierung nichts unternimmt, kann sich bei der WM 2014 wiederholen, was sich im Juni beim Confederations Cup gezeigt hat."

Es muss nicht so weit kommen: Brasilien ist reich an Bodenschätzen, hat eine junge und motivierte Bevölkerung, und von Kapitalflucht ausländischer Unternehmer kann noch keine Rede sein. Wenn die Regierung sich den dringend nötigen Reformen stellt, prognostizieren Experten Brasilien eine glänzende Zukunft.

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