Zwischen Baustelle und Orchestergraben
6. Februar 2013 Valery Gergiev ist einer der charismatischsten russischen Künstler der Gegenwart. Er ist 1953 in Moskau geboren und in Ordschonikidse (heute Wladikawkas) in Nordossetien aufgewachsen. Der Vater, ein Veteran des Zweiten Weltkrieges, ist an den Folgen seiner Verwundungen mit nur 49 Jahren gestorben. Valery, das älteste seiner drei Kinder, war gerade 13 Jahre alt. Nach Gergievs eigenen Worten haben ihn seine Wurzeln und seine frühen Jahre im konservativen, christlichen Nordkaukasus "energetisch geladen und nachhaltig geprägt".
"Valery ist ein Genie!"
Glücklicherweise kam das begabte Kind früh genug "in die Räder" des selektiven sowjetischen Musikbildungssystems. Am Petersburger Konservatorium wurde Gergiev Schüler des berühmten "Dirigentenmachers" Ilja Musin, der so unterschiedliche Künstler wie Semyon Bychkov, Mariss Jansons, Anu Tali oder Tugan Sokhiev auf ihren Weg brachte. Gergiev war Musins Lieblingsschüler. Als man sich später beim Altmeister beschwerte, sein Zögling probe zu wenig und sei sonst "zu spontan", soll Musin zornig geantwortet haben: "Valery ist ein Genie! Er braucht nicht zu proben! Er schaut nur in die Partitur - und weiß schon alles!"
Das Handwerk hat Musin seinem Schüler Gergiev dennoch beigebracht. 1976 wird der 23-Jährige Preisträger des Karajan-Wettbewerbes in Berlin, 1978 Dirigent am Mariinski-Theater, das er zehn Jahre später als künstlerischer Leiter übernehmen durfte - ja musste. "Alles um uns herum brach zusammen", erinnerte sich Gergiev in einem DW-Interview. "Es ging ums schiere Überleben, um die Rettung des Theaters und des Orchesters."
Mariinski ist zu seiner Lebensaufgabe geworden. Heute ist es in ganz Russland das einzige Opernhaus, das in der internationalen Liga mitspielt und in der Lage ist, aus eigener Kraft etwa einen "Ring des Nibelungen" von Richard Wagner zu stemmen. Gezielte Talentförderung - das Haus hat eine eigene Sängerakademie - beschert der Opernwelt immer wieder großartige Entdeckungen.
Internationales Geflecht und nationale Seilschaft
Wer mit Valery Gergiev sprechen möchte, muss sich auf eine lange Wartezeit einstellen. In den unzähligen Stunden vor seinem Büro im Mariinski-Gebäude sieht man aber auch, wie sein Imperium funktioniert: Investoren, Politiker, Architekten, Festivalleiter, Künstler warten geduldig. Keine Putzfrau wird im Theater ohne Gergievs Zustimmung angestellt. Eine der Bewerberinnen für die Putzstelle war auch einmal der spätere Opernstar Anna Netrebko. Dann läuft der Maestro mal eben raus mit einem gelben Bauhelm - hinter dem alten Theater entsteht gerade das neue Gebäude des "Mariinski-2". Dann ist er plötzlich spurlos verschwunden und keiner weiß, ob er wieder kommt.
Gergiev leitet ein halbes Dutzend internationaler Festivals, wie "Sterne der weißen Nächte" in Sankt Petersburg oder das "Gergiev Festival" in Rotterdam, zwei der wichtigsten Musikfeste. Jahrelang galt Baden-Baden als die "Sommerresidenz des Mariinski-Theaters". Gergiev hatte um die Jahrtausendwende wesentlich zur finanziellen Rettung des Festspielhauses beigetragen.
Gergiev gilt als Weltmeister unter den Dirigenten, was die Anzahl der jährlich geflogenen Meilen anbelangt. Seine Unpünktlichkeit ist dabei legendär: Der Maestro schafft es, sich zu seinen eigenen Konzerten regelmäßig zu verspäten und hinterlässt den Eindruck eines chronisch Gestressten. Man kann nur staunen, wie bei so viel Chaos ein so effizientes System aus weltweiten Verpflichtungen und Verflechtungen funktioniert. Beste Beziehungen unterhält er auch zum Kreml: Gergiev, der den inoffiziellen Posten des "Musik-Ministers" in Russland bekleidet, nimmt bereitwillig an Präsident Wladimir Putins öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen teil.
München als Ruhepol?
Bei der ganzen öffentlichen und geschäftlichen Aktivität bleibt aber der große Künstler Gergiev immer wieder auf der Strecke. Und - trotz zahlreicher Gastdirigate: Der ganz große internationale Durchbruch lässt bislang auf sich warten. Auch sein Engagement als Chef des London Symphony Orchestra - diesen Job wird Gergiev allerdings 2015 zugunsten der Münchner aufgeben - hat daran nichts geändert. Für die meisten westlichen Kritiker ist Gergiev weiterhin "ein Mann fürs russische Repertoire, der oft laut statt raffiniert ist und mit dem klassisch-romantischen Repertoire eher tölpelhaft umgeht".
Dabei hat Gergiev in den letzten Jahren alle Mahler-Symphonien mit seinem Mariinski-Orchester erarbeitet und einen gefeierten Klang entwickelt. Auch sein Wagner klingt, wenn der Maestro einen guten Tag hat, großartig, poetisch und bodenständig zugleich. Gergiev hat seinerzeit mit "Lohengrin" debütiert und räumt Wagner "einen besonderen Platz" in seinem Repertoire ein.
Valery Gergiev wird am 2. Mai 60 Jahre alt. Man könnte vermuten, dass er sich nun in München den Luxus erlauben will, sich ganz auf die Musik zu konzentrieren. Sollte es so sein, kann man in den nächsten Jahren Großartiges erwarten.