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Zwischen Chaos und Demokratie: Libyen steht am Scheideweg

Jennifer Holleis | Mohamed Farhan
1. Juni 2025

Neue Kämpfe im Westen Libyens wecken die Sorge vor einem Wiederaufflammen des Bürgerkriegs. Doch Beobachter sehen in den Unruhen auch eine Chance, die politische Blockade im gespaltenen Libyen zu überwinden

Demonstranten halten Papiere hoch und fordern den Sturz der Einheitsregierung auf dem Märtyrerplatz in Tripoli
Nach Zusammenstößen zwischen bewaffneten Gruppen und Milizen in Tripolis protestieren Libyerinnen und Libyer und fordern politischen Wandel.Bild: Ayman al-Sahili/REUTERS

​Auch wenn es in dieser Woche vergleichsweise ruhig ist, bleibt die Lage in Libyens westlicher Hauptstadt Tripolis angespannt. Anfang Mai war es dort zu schweren Gefechten zwischen regierungstreuen Kräften und bewaffneten Milizen gekommen. Auslöser war ein Dekret von Premierminister Abdul Hamid Dbeibah, das die Auflösung mehrerer Milizen angeordnet hatte. Eine dieser Milizen war die einflussreiche "Stabilitätsunterstützungsbehörde" (Stabilization Support Apparatus, SSA). Der Leiter der SSA kam bei den Gefechten Anfang Mai ums Leben. Laut den Vereinten Nationen wurden bei den Kämpfen acht Zivilisten getötet. Später wurden in einem Krankenhaus, das unter Kontrolle der SSA stand, weitere 58 Leichen entdeckt.

Premierminister Abdul Hamid Dbeibah hat Forderungen nach seinem Rücktritt entschieden zurückgewiesen.Bild: Hamza Turkia/Xinhua/imago images

"Die jüngsten Kämpfe in Tripolis mit zivilen Opfern zeigen deutlich, wie fragil die Lage weiterhin ist", sagt Hanan Salah, Libyen-Expertin bei Human Rights Watch, im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Die Rücksichtslosigkeit, mit der mitten in Wohnvierteln gekämpft wurde, zeigt die eklatante Missachtung des Lebens und der Lebensgrundlagen der Bevölkerung."

Ein gespaltenes Land

Seit 2014 ist Libyen politisch geteilt: In Tripolis im Westen regiert die von den UN unterstützte Einheitsregierung unter Abdul Hamid Dbeibah. Ihr gegenüber steht eine rivalisierende Regierung mit Sitz im ostlibyschen Tobruk. Diese wird vom Premierminister Ossama Hammad geführt und vom früheren Warlord und heutigen Politiker Khalifa Haftar unterstützt.

Während Haftar im Osten die verschiedenen bewaffneten Gruppen weitgehend unter seine Kontrolle gebracht hat, hat Dbeibah im Westen lange konkurrierende Milizen geduldet. Beobachter sehen in der jüngsten Eskalation ein Anzeichen dafür, dass Dbeibah nun ebenfalls versucht, die militärische Kontrolle im Westen zu zentralisieren.

Mitte Mai endeten die Kämpfe nach wenigen Tagen – offenbar infolge einer geheimen Vereinbarung zwischen den Milizen und der Regierung. Danach kam es zu Protesten, bei denen Teilnehmer nationale Wahlen und eine Rückkehr zum Verfassungsprozess forderten. Dieser war seit dem Scheitern eines von den Vereinten Nationen geführten Friedensprozesses im Dezember 2021 zum Stillstand gekommen. Tausende forderten zudem Dbeibahs Rücktritt.

Brennende Reifen: Proteste gegen Regierungschef DbeibahBild: AFP via Getty Images

In einer Fernsehansprache reagierte Dbeibah nicht auf die Rücktrittsforderungen. Stattdessen erklärte er: "Wir heißen alle willkommen, die sich auf die Seite des Staates stellen – und wir werden jene ausschließen, die auf Erpressung und Korruption setzen. Unser Ziel ist ein Libyen ohne Milizen und ohne Korruption." Beobachter sind sich einig: Dbeibahs vorrangiges Ziel scheint der Machterhalt zu sein.

Ein eingefrorener Konflikt

"In den vergangenen Jahren war der Konflikt in Libyen weitgehend eingefroren, da die beteiligten Akteure die Ressourcen unter sich aufgeteilt hatten", sagt Tim Eaton vom Londoner Thinktank Chatham House. Doch der Wettbewerb sei weitergegangen – etwa um die Kontrolle über staatliche Unternehmen wie die libysche Post- und Telekommunikationsgesellschaft, die bedeutende Monopole im Telekomsektor betreibt.

Die Lage sei gefährlich, so Eaton: "Es besteht eine reale Gefahr, dass das Land erneut in einen Bürgerkrieg abgleitet." Gleichzeitig sieht er auch Chancen: Die aktuellen Entwicklungen könnten eine politische Dynamik auslösen – ähnlich wie frühere Gewaltausbrüche in Tripolis in den Jahren 2014 und 2020, nach denen politische Veränderung folgte.

Neue UN-Initiative

Auch Mohamed Dayri, ehemaliger Außenminister der Regierung in Tobruk, sieht in der aktuellen Krise eine mögliche Wende. "Dies könnte ein entscheidender Moment sein, um endlich Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf den Weg zu bringen", sagte er der Deutschen Welle. Voraussetzung sei jedoch die Bildung einer Einheitsregierung, die der derzeitigen institutionellen Spaltung im Land ein Ende setzt.

Die UN-Unterstützungsmission in Libyen (UNSMIL), die seit 2011 den politischen Übergang begleiten soll, hat einen neuen Bericht veröffentlicht, der vier mögliche Wege aus der Krise aufzeigt: etwa gleichzeitige Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, Parlamentswahlen mit anschließender Verfassungsgebung oder die Bildung eines politischen Dialogkomitees, das Wahlgesetze, Verfassung und Exekutive definiert.

"Die libyschen Parteien müssen einen Konsens finden", betont Hanan Salah von Human Rights Watch. "Die Probleme im Bereich der Menschenrechte und die politische Spaltung lassen sich nicht über Nacht lösen. Freie und faire Wahlen erscheinen heute zwar schwer erreichbar – aber welche Alternative haben die rivalisierenden Kräfte?"

Dieser Text ist eine Adaption aus dem Englischen.

Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.
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