Zwischen den Fronten: Die Rolle der Türkei im Gaza-Plan
23. Oktober 2025
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist derzeit der Liebling von US-Präsident Donald Trump. Empfänge im Oval Office können schnell eskalieren - nicht jedoch für den 71-jährigen Erdogan. Trump spricht seit Wochen in höchsten Tönen von ihm: Er leiste sehr gute Arbeit, sei ein hochgeachteter und respektierter Mann, wie Trump erst vor kurzem im Weißen Haus betonte.
Auch beim Gaza-Gipfel in Scharm el Scheich platzierte Trump den türkischen Präsidenten in der ersten Reihe. Er gehörte zu den vier Unterzeichnern der Gaza-Friedenserklärung, neben den Staatsoberhäuptern der USA, Ägyptens und Katars, während europäische Staats- und Regierungschefs sich mit Plätzen auf den hinteren Bänken begnügen mussten. Bei der Gelegenheit bekräftigte Trump erneut, Erdogan sei ein guter Freund, der ihm immer zur Seite stehe.
Diese Haltung setzte US-Vizepräsident JD Vance diese Woche bei seinem Israel-Besuch fort. Er hob hervor, die Türkei habe bisher eine sehr konstruktive Rolle gespielt, was auch künftig der Fall sein werde.
Türkische Soldaten in Gaza?
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und sein Kabinett sind jedoch ganz anderer Meinung. Wegen der Nähe zur Hamas und der harten Kritik an Israel sehen sie Erdogan kritisch. Dies zeigte sich bei der gemeinsamen Pressekonferenz von Netanjahu und US-Vize Vance diese Woche. Auf die Frage nach einer möglichen Beteiligung Ankaras an der internationalen Stabilitätstruppe in Gaza entgegnete Netanjahu knapp: "Ich habe dazu eine sehr klare Meinung. Raten Sie, welche."
Das türkisch-israelische Verhältnis hat in den letzten zwei Jahren einen Tiefpunkt nach dem anderen erreicht. Ankara wirft der israelischen Regierung Völkermord in Gaza vor; Erdogan bezeichnet Netanjahu als den "Schlächter von Gaza" und die Hamas als Befreiungsorganisation.
Türkischen Medien zufolge gewährt Ankara Mitgliedern und Familien der Hamas - die von zahlreichen Ländern, darunter Deutschland und die USA, als Terrororganisation eingestuft wird - Zuflucht in der Türkei. Viele von ihnen besitzen die türkische Staatsbürgerschaft, und die islamistische Miliz soll Büros am Bosporus unterhalten.
Die israelische Politspitze schlägt zurück, insbesondere rechte Minister in Netanjahus Kabinett greifen Erdogan zum Beispiel mit anstößigen Fotomontagen und Karikaturen an, teils auf Türkisch. Nach der Tötung des Hamas-Führers Jihia al-Sinwar teilte der jetzige Verteidigungsminister Israel Katz ein Foto des zerfetzten Körpers mit der Botschaft, so sehe Erdogans "lieber Freund" aus.
Trumps Kalkül: Ankara als notwendiger Akteur
Mit Katar hatte Donald Trump bereits einen Akteur mit engen Verbindungen zur Hamas eingebunden. Dass er zusätzlich die Türkei - trotz der Zerwürfnisse mit Israel - in den Gaza-Prozess holte, führt Hakki Tas, Politikwissenschaftler am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien und Experte für die AKP-Nahostpolitik, auf die strategische Position Ankaras zurück. Der US-Präsident ziele darauf ab, den Plan für die USA mit geringstmöglichen militärischen und wirtschaftlichen Kosten umzusetzen.
Die türkische Regierung, so Tas, sei einer der wenigen Akteure, die durch ihre Politik indirekt Druck auf Netanjahu ausüben und gleichzeitig auf die Hamas einwirken können. Zudem sei die Türkei ein NATO-Mitglied mit engen Kontakten zum Westen, ein wichtiger militärischer Akteur und ein erfahrener Partner bei der Gewährleistung humanitärer Hilfe und der Logistik für den Wiederaufbau im Gazastreifen.
Innenpolitische Dynamiken und Erdogans Prestigegewinn
In der Türkei gibt es professionelle Katastrophenschutz- und Hilfsorganisationen wie den Katastrophenschutz AFAD und den Türkischen Roten Halbmond, die bei der Bewältigung großer Erdbeben und Flüchtlingsströme umfangreiche Erfahrung haben. Einige türkische Baufirmen gehören, gefördert durch Erdogans großzügige staatliche Aufträge der letzten 20 Jahre, zu den größten weltweit.
Für Erdogan, meint Experte Tas, eröffnet sich mit dem Gaza-Friedensplan ein neuer politischer Handlungsspielraum gegenüber der schwächelnden Hamas und dem zunehmend isolierten Israel. Der Aufstieg vom bis vor kurzem ausgeschlossenen Akteur zum wichtigen Vermittlerstaat verschaffe Erdogan zudem Prestige und bediene die Palästina-Sensibilität seiner Parteibasis.
Die nationalistisch-konservative Wählerschaft war zuletzt mit Ankaras Politik sehr unzufrieden, was sich in zunehmenden Protesten äußerte. Die Botschaft, dass die Türkei Mitunterzeichner der Friedenserklärung ist, Soldaten in die Gaza-Truppe entsenden und sich bei Wiederaufbau und humanitärer Hilfe engagieren wird, dient nun zur politischen Beruhigung.
Der Sicherheitsexperte Burak Yildirim betont, allein die Entsendung türkischer Soldaten nach Gaza würde Erdogan eine große politische Kampagne ermöglichen und stärke das Narrativ der außenpolitischen Wirksamkeit der Regierung. Für Islamisten in der Türkei habe die Entsendung eine sehr große symbolische Bedeutung, vergleichbar mit der Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee.
Nach dem 7. Oktober 2023 war Erdogan wegen der Handelsbeziehungen mit Israel starkem Wählerdruck ausgesetzt. In den vergangenen Monaten zeigte er Trump gegenüber große Kompromissbereitschaft. Yildirim prognostiziert, er wolle seine wirtschaftlich angeschlagene und ermüdete Regierung nicht erneut mit einer weiteren großen Krise auf die Probe stellen.
Fragiler Frieden und begrenzter Einfluss
Angesichts der jüngsten gegenseitigen Angriffe bleibt der Frieden in Gaza vorerst sehr fragil. Ankara richtet sein Hauptaugenmerk zwar weiterhin auf Syrien, will aber ein bestimmender Akteur in Gaza bleiben.
Allerdings glaubt Yildirim nicht, dass Ankaras Einfluss ausreicht, um die israelisch-palästinensische Frage im Sinne einer Zwei-Staaten-Lösung zum Abschluss zu bringen. Es sei der türkischen Regierung weder gelungen, Palästina bei den UN anerkennen zu lassen, noch Israels existenzielle Sicherheitsbedenken zu zerstreuen. Dennoch könne die Türkei die Konfliktparteien und andere Beteiligte an einen Tisch bringen.
Nahost-Forscher Tas äußert allerdings Zweifel, ob die Türkei ihre Rolle mittel- und langfristig aufrechterhalten kann. Zu vielfältig seien mögliche Bruchstellen: Israels zweifelhafte Verlässlichkeit bezüglich der Palästinensergebiete, mögliche Meinungsverschiedenheiten mit Ägypten, die restriktive Dynamik des US-Kongresses gegenüber Erdogan und potenzielle Spaltungen innerhalb der Hamas könnten den Einfluss der Türkei einschränken. Daher erwartet Tas, dass Ankara sich vorrangig im humanitären und logistischen Bereich engagieren wird. Politische und militärische Themen seien für die Türkei mit zu hohen Risiken behaftet.