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Zwischen Familie, Freund und Freiheit

Susanne Gupta14. März 2005

Junge Migrantinnen stehen in Deutschland unter Druck, weil soziale Kontrolle ihr Privatleben und ihre Partnerwahl einschränkt - ein Problem, das sich eher verschlimmert.

Türkische Mädchen in einer Diskothek in KölnBild: dpa

Kopftuch, Jeans und HipHop - für viele junge Migrantinnen geht das problemlos zusammen. Der Freizeittreff Madonna Mädchen Kult.Ur e.V. in Berlin Neukölln ist für viele der einzige Ort, wo sie unbefangen tanzen, reden oder im Internet chatten können. Auch Hülya Bastosun, die nie in einer Disko war, verbringt ihre Nachmittage hier. Die 28-Jährige weiß, wie wichtig ein noch so kleiner Freiraum ist, wenn man aus einer Familie kommt, in der die Freizeit streng kontrolliert wird - weil man ein Mädchen ist. Sie wurde zwangsverheiratet und war schwanger, da hatte sie die Schule noch nicht beendet.

Hülyas Großmutter kam 1968 als Gastarbeiterin aus Anatolien nach Deutschland. Sie tat, was bis heute in Ost- und Südostanatolien üblich ist: Einen Mann zu suchen, aus dem eigenen Familienumfeld, sobald das Mädchen geschlechtsreif ist. Hülya ließ sich verheiraten, auch aus Angst. Sie muss immer noch weinen, wenn sie daran denkt, wie groß die Angst vor dem Vater war.

"Alle würden tratschen"

Wie die große Mehrheit der türkischen Migrantinnen der dritten Generation ist sie gegen eine frühe und arrangierte Hochzeit. An anderen Normen will sie aber festhalten, zum Beispiel an der Jungfräulichkeit. "Es ist uns so eingeredet worden von klein auf, dass Frauen sauber bleiben sollen. Die ganze Familie würde darunter leiden, meine Eltern würden sich nicht auf die Straße trauen. Alle würden darüber tratschen."

Wie und mit wem eine junge Frau lebt, ist keine Privatangelegenheit. Der Verlust der Jungfräulichkeit bedeutet Prestigeverlust für die ganze Familie. Deshalb werden Jungfernhäutchen sogar wieder "repariert" - mit einem Eingriff, der wahrscheinlich jedes Jahr tausendfach in Deutschland vorgenommen wird. Offizielle Zahlen gibt es nicht, und Gynäkologen schweigen dazu lieber. Hülya nicht: "Ich höre, sehr viel von jungen Mädchen, die schon mit dem Freund geschlafen haben und das später wieder reparieren lassen."

Jungs dürfen

Zwar ist Sex vor der Ehe im Koran für beide Geschlechter tabu, doch werden meist nur die Freiräume der Mädchen beschnitten. Auch Cigdem Kazanci vom Madonna-Team will Jungfrau bleiben bis sie heiratet. Sie findet es ungerecht, dass Jungen es da meist nicht so ernst nehmen. Cigdem glaubt nicht, dass sich an dieser Doppelmoral so schnell etwas ändern wird.

Dass Mädchen in der Pubertät Schwierigkeiten bekommen, ist unvermeidlich, sagt Frau Gabriele Heinemann, Leiterin von Madonna e.V. "Wir haben eine junge Frau mit arabischem Hintergrund, die ist bis zum Schädelbasisbruch an die Wand geflogen. Die Ärzte haben geraten, den Vater anzuzeigen, aber sie tut es nicht."

Schlimmer als der Schmerz ist der Bruch mit der Familie. Im Madonna-Mädchentreff erfahren die Mädchen oft erstmalig etwas über ihre grundlegenden Rechte, zum Beispiel dass es in Deutschland verboten ist, Frauen und Kinder zu schlagen.

Alte Werte gegen Identitätskrise

Viele türkische Familien in Deutschland entwickeln sich weit konservativer als vergleichbare in türkischen Städten.

Yasemin Karakasoglu, Professorin für Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen, hält diese konservative Entwicklung für ein modernes Phänomen. Die Familien hätten hier einen völlig anderen Rahmen für die eigene Lebensvorstellung. Sie müssten sich sozial viel stärker in der "Community" behaupten - und sind zudem mit Diskriminierung und Bildern der deutschen Mehrheitsgesellschaft konfrontiert. "Da kann das Festhalten an der Virginitätsnorm nicht nur ein Wunsch der Eltern sein, sondern auch des Mädchens selbst", sagt Karakasoglu. "Ein offensives nach außen getragenes Anderssein, was man dann positiv für sich definiert."

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