Zwischen Idyll und Elend
18. November 2009
Ich sitze mit Timo im Bus und begleite ihn zur Arbeit. Heute geht’s mal nicht auf den Fußballplatz, sondern zu einer "Spielothek" für Kinder.
Der Bus lässt die schöneren Teile der Stadt hinter sich und biegt auf eine lange gerade Straße ein. Wie eine Brücke führt sie hinüber nach La Carpio - einem Viertel, um das Taxifahrer nachts einen großen Bogen machen. La Carpio liegt auf einem einsamen Hügel in der Mitte von verlassenem Land. Unsere Straße ist die einzige, die dort hinein führt - oder auch wieder raus.
Kein guter Ort für Kinder
Und wie es dort aussieht, ist schockierend, wenn man nur das andere Gesicht von Costa Rica kennt: Das aus den Reisekatalogen, mit den karibischen Stränden, den traumhaften Regenwäldern und den bunten, einzigartigen Tieren. Timo Heidbrink schildert, wie er den krassen Gegensatz zwischen Idyll und Elend erlebt: "Das macht sich nicht gut - ein Land wie Costa Rica, mit Tourismus… Wer möchte denn das sehen? Da möchte man lieber schöne saubere weiße Strände sehen und saubere Monumente in der Stadt. Da möchte man nicht irgendwelche armen Menschen sehen. Aber man kann einfach nicht so tun, als gäbe es sie hier nicht.“
Eigentlich gilt Costa Rica als die Schweiz Mittelamerikas. Im Vergleich zu anderen Ländern gibt es hier weniger Armut, mehr Bildung, eine stabile Demokratie - und die Menschen sind besser mit Wasser, Strom und Medizin versorgt. Deswegen kommen Einwanderer aus den Nachbarländern nach Costa Rica und versprechen sich ein besseres Leben. 40.000 von ihnen sind hier gelandet. Viele aus Nicaragua: Zwischen Tonnen von Müll, ohne Job, ohne Aufenthalteserlaubnis, und meist an der Armutsgrenze. Timo Heidbrink vergleicht, wie er aufgewachsen ist, mit der Situation der Kinder von La Carpio. "Es ist eigentlich grausam, wenn man das sieht. Man selbst hat Zimmer, die riesig sind, und sie haben kleine Zimmer und leben da zu zehnt drin. Das ist kein schöner Anblick."
Bildung ist Mangelware
Für die Kinder stehen die Chancen schlecht, La Carpio hinter sich zu lassen. Sie bekommen hier nicht mal das, was jeder braucht, um etwas aus seinem Leben zu machen: eine gute Schulbildung. Timo Heidbrink erzählt, dass die Klassen meist überfüllt seien, die Lehrer schlecht ausgebildet, es werde wegen Lehrermangel in Schichten unterrichtet. Eine Grundbildung werde so sicher nicht vermittelt, meint der 21-Jährige. Tatsächlich gehen viele Kinder erst gar nicht zur Schule und rutschen oft früh hinein in den Teufelskreis aus Drogen, Gewalt und Armut. Kriminalität ist ein großes Problem. Und die "Karrieren" beginnen früh, weiß Timo Heidbrink: "Es gibt Trickdiebe, bei denen man einfach nicht mitbekommt, dass einem grade irgendwas aus der Tasche geklaut wurde. Aber das ist nur die Minderheit. Die Mehrheit sind schwere Überfälle. Das heißt, in den meisten Fällen wirklich mit Messer, Pistole… Man wird einfach ausgeraubt, es wird einem alles weggenommen." Wenn einem so etwas widerfahre, solle man sicher besser nicht wehren, sonst könne Schlimmeres passieren.
Versuchen, zu verstehen
Dass man mit der "Spielothek" das Leben der Kinder nicht auf den Kopf stellen könne, sei Timo klar, sagt er. Aber es kann ein erster Schritt sein, um Probleme zu erkennen. "Es ist Spaß und Spiel dort, es ist auf jeden Fall eine sinnvolle Beschäftigung für den Nachmittag. Damit sie nicht irgendwo einfach rumhängen, nichts machen, vielleicht auf dumme Gedanken kommen. Aber auch, damit man diese Menschen kennenlernt und versteht. Oder zumindest versucht, sie zu verstehen."
Nach der Arbeit in der Spielothek fahre ich mit Timo wieder raus aus La Carpio und rein in die Stadt. Nur wenige Stunden, nachdem wir aus dem Bus ausgestiegen sind, schießen zwei Fahrgäste auf einen Busfahrer dieser Linie. Der Mann wird lebensgefährlich verletzt.
Zur Verbesserung des Rufs von La Carpio trägt das nicht gerade bei.
Autorin: Stefanie Hornig
Redaktion: Birgit Görtz