Berlins Partytram
12. Januar 2013 Meine Bekannte Nadja hatte mich gewarnt: "Nachts in der M10? Das ist die Hölle!" Sie wohnt nahe der Warschauer Straße, die von der Tram M10 befahren wird, und ist genervt von den lauthals Feiernden in der Straßenbahn. Fast jede Nacht wollen die zu den besten Party-Orten Berlins. Dass die M10 sie dahinbringt, damit werben die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Doch sie tun sich mittlerweile schwer mit dem Image der Partytram, wie BVG-Pressesprecher Klaus Wazlak bestätigt: "Wir versuchen, die nächtlichen Exzesse so weit wie möglich einzudämmen. Reiseführer und Veröffentlichungen im Netz haben zum zweifelhaften Ruhm der Straßenbahnlinie beigetragen."
Hölle? Exzesse? Vielleicht ein Club auf Schienen? Meine Neugierde ist geweckt! Ich beginne die Fahrt in das vermeintliche Inferno um ein Uhr nachts an einem der beiden Endpunkte der Linie, dem Nordbahnhof in Berlin-Mitte. Erwartungsvoll entere ich die Tram zusammen mit einem Dutzend anderer Leute. Noch findet jeder einen Sitzplatz. Die M10 fährt los, ich mustere meine Mitfahrer. Die sehen alle recht normal aus. Die Studentin neben mir ist auf dem Heimweg vom Job. Dass sie um diese Uhrzeit nicht in einer menschenleeren Bahn unterwegs sein muss, findet sie irgendwie beruhigend.
Ohne Fahrbier
In der nächsten halben Stunde durchquert die M10 die hippen Stadtteile Prenzlauer Berg und Friedrichshain, Ziel ist die Warschauer Straße nahe Kreuzberg. Die Tram gleitet an der Gedenkstätte Berliner Mauer vorbei und weiter entlang der Bernauer Straße. Wo früher die Grenze verlief, kann man im Dunkeln den Mauerpark erahnen. Schräg gegenüber steht ein Hostel. "Eberswalder Straße", reißt mich die weibliche Stimme aus dem Lautsprecher aus meinen Gedanken. Hier kreuzt die M10 die U-Bahnlinie 2 und die Ausgehmeile Kastanienallee. Die Türen gehen auf, es wird voll. Durch die Scheibe fällt mein Blick auf eine Leuchtschrift: "Konsum Kutte". Dort haben sich einige der zahlreichen neuen Fahrgäste mit alkoholischen Getränken versorgt. Ohne "Fahrbier" macht sich ein gewisses Außenseitergefühl in mir breit.
Meine Mitfahrer sind zwischen 17 Jahren und Anfang 40. Teenager, Studenten, Touristen. Die Stimmung ist gelöst, aber nicht aggressiv, der Geräuschpegel deutlich höher als bei Fahrten tagsüber. Drei Amerikaner sind auf dem Weg ins "Watergate", einen Club an der Spree mit elektronischer Musik. Die einheimischen Jugendlichen, die am Bersarinplatz aussteigen, gehen zu einer Privatparty.
Lost in Berlin
Jetzt ist die Bahn auf der Zielgeraden angelangt: der Warschauer Straße. Kurz darauf ertönt die finale Ansage auf Deutsch und Englisch: "Dieser Zug endet hier." Viele der angesagten Clubs im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg sind zu Fuß zu erreichen. Eine Gruppe Israelis schaut leicht desorientiert um sich. Heute ist ihr erster Tag in Berlin. Wohin sie wollen, wissen sie nicht. Ich auch nicht.
Mit den Israelis im Schlepptau laufe ich schließlich ein Stück zurück über die Warschauer Brücke. Um uns herum Gewusel, links ein Supermarkt mit optimalen Öffnungszeiten: von 0:00 bis 24:00 Uhr. Dem Strom der Leute folgend, wende ich mich samt meinem Anhang nach rechts zur Revaler Straße Richtung RAW-Gelände. Auf dem Areal des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks, kurz RAW, wird in Bars, Clubs und Konzerthallen die Nacht zum Tage gemacht. Das Ganze wirkt wie ein Biotop inmitten der viel beklagten Gentrifizierung dieses Teils von Berlin.
Zu Besuch bei Emma Pea
Ich höre laute, harte Gitarrenklänge. Die kommen aus dem "Cassiopeia", wo ein Konzert im Gange ist. Gleich vis-à-vis der Laden, in dem ich die nächsten Stunden verbringen werde. Aber das ahne ich noch nicht, als ich die Schiebetür öffne und im Bar-Bereich des vegetarisch-veganen Restaurants "Emma Pea" stehe. Der kleine Raum ist in rötliches Licht getaucht, eine Diskokugel dreht sich zu Hip Hop-Musik und am Tresen ist noch Platz. Mein Gefolge aus Nahost ist ohne Abschied verschwunden. Egal.
Schnell ein Bier bestellt. Auf einem Regal liegen Sombreros. Die Barkeeperin nimmt einen davon, setzt ihn mir auf und macht mit ihrem Handy ein Foto. In den folgenden drei Stunden passiert hier jede Menge Überraschendes: An der Theke wird einem Gast ein Ohrloch gestochen, ein anderer gibt eine Beatbox-Vorstellung. Der Typ neben mir erzählt unterdessen ausgiebig aus seinem Leben. Flambierte Drinks sorgen für Atmosphäre - ich bleibe vorerst beim Bier. Um halb fünf morgens genehmige ich mir noch einen Wodka als Absacker und trete leicht schwankend den Heimweg an.
Berliner Nachtschwärmer unterm Brennglas
An der Warschauer Straße muss ich zum Glück nicht lange auf die M10 warten, die Tram fährt alle 15 Minuten. An der Haltestelle sieht niemand mehr so richtig frisch aus. Die einen wollen nach Hause, die anderen zur nächsten Location. Ich lasse mich auf einen Sitz fallen und blicke einer leeren Bierflasche nach, die durch die Bahn rollt. Um diese Uhrzeit hat der Innenraum der Tram sichtbar gelitten. Kronkorken und anderer Müll liegen auf dem Boden. Ein Fahrgast streift seine Jacke ab und zieht sie dann verkehrt herum wieder an. Danach wiederholt er das Prozedere mit seiner Hose. Ich bin irritiert.
Etwas weiter hinten geht es eindeutiger zu. "Kannst mitkommen, habe aber nur ein Bett", sagt eine leicht derangierte Dame im Minirock zu ihrem Gegenüber. Augenblicke später knutscht sie ihn stürmisch. Als sie von ihm ablässt, zündet sich der Umworbene trotz Rauchverbots in der Bahn eine Zigarette an. Irgendwo zwischen Friedrichshain und Prenzlauer Berg entschwinden die beiden zusammen in die Nacht. Ein anderes Pärchen kommt von einem Hardrock-Konzert, stilecht ausstaffiert mit Band-Shirts und Cowboystiefeln. Ein Betrunkener stiert sie immer wieder an. Bevor er die Tram verlässt, schleudert er den beiden unvermittelt ein "Seht scheiße aus" entgegen.
Meine Fahrt endet für heute an der Eberswalder Straße. Bei einem Döner lasse ich meine Eindrücke von der M10 Revue passieren. War doch alles halb so wild. Exzesse? Eher nicht. Party? Na, sagen wir Party-Stimmung. Aber rau kann es eben auch zugehen in der M10, die mit ihrer bunten Mischung aus Szenegängern, Touristen und allerlei skurrilem Volk ein komprimiertes Abbild des Berliner Nachtlebens bietet. Auf der knapp acht Kilometer langen Strecke habe ich exemplarisch erlebt, was Berlin bei Nacht für viele aufregend und für Anwohner wie Nadja anstrengend macht.