Zwischen den Stühlen
28. August 2008Der ehemalige große Bruder aus dem Osten oder die Neuen, die Westler. Der militärische Konflikt in Georgien und der verbale Schlagabtausch zwischen Russland und dem Westen lassen weder die ukrainischen Politiker, noch die Bevölkerung in dem östlichen EU-Nachbarland kalt.
Kiew kritisiert Moskau
Der prowestliche ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko hat sich von Anfang an auf die Seite Georgiens und des Westens gestellt. Die Anerkennung der abtrünnigen georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien durch Russlands Präsident Dimitri Medwedew hat er verurteilt: "Fundamentale Vereinbarungen und Vertrauensprinzipien können verloren gehen, wenn Diplomatie und Friedenspolitik durch Politik der Stärke ersetzt werden." Auch die Regierungschefin Julija Tymoschenko fand schließlich klare Worte. "Das ist eine heilige Frage, sowohl für Georgien als auch für die Ukraine. Deshalb glauben wir: Die Weltpolitik muss so gestaltet werden, dass die territoriale Einheit eines Landes nicht unter gesetzeswidrigen Ansprüchen leidet."
Ukrainische Politiker in der Klemme
Die ukrainische Regierungschefin war nicht immer so deutlich. Nach dem Kriegsausbruch im Kaukasus hatte die beliebte Politikerin zunächst auffällig lange geschwiegen. Das führte zu Spekulationen, die ukrainische Ministerpräsidentin könnte auf russische Unterstützung im Wahlkampf hoffen. Ein neuer Präsident der Ukraine wird zwar erst Anfang 2010 gewählt, doch der Kampf um Wählerstimmen hat bereits begonnen. Beobachter gehen davon aus, dass Tymoschenko die besten Chancen hat, das Rennen zu gewinnen und deshalb Russland zugewandte Wähler im Osten und Süden der Ukraine nicht verärgern will.
Auch Viktor Janukowitsch, Vorsitzender der oppositionellen Partei der Regionen, äußerte sich lange Zeit nicht. Dann rief er zur Anerkennung Abchasiens und Südossetiens als unabhängige Staaten auf. Seine Partei hat ihre Stammwähler im russisch-sprachigen Osten und Süden der Ukraine.
Tiefe Spaltung der Gesellschaft
So wie die Politik, ist auch die ukrainische Gesellschaft tief gespalten. Laut einer Umfrage des unabhängigen Kiewer Rasumkow-Zentrums sehen 44 Prozent der Ukrainer in Russland einen Aggressor. Doch fast genauso viele – 41 Prozent – meinen, dass Moskau in Georgien Frieden stiften wollte. Besonders auf der Krim ist diese Meinung weit verbreitet. Die ukrainische Halbinsel könnte zum nächsten Konfliktherd werden, denn hier leben besonders viele Russen. 1994 war es der Ukraine gelungen, Separatisten dort in die Schranken zu weisen. Das Beispiel von Abchasien und Südossetien könnte deren Ideen neuen Schwung geben, so die Befürchtung in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Und noch etwas kommt hinzu: Im Falle einer Eskalation müsste Russland seine Truppen gar nicht erst in die Ukraine schicken, denn die Schwarzmeerflotte ist schon da. Deshalb hat die Regierung in Kiew die Bedingungen für russische Truppenbewegungen auf ukrainischem Boden deutlich verschärft.
NATO-Beitritt? Nein, danke?
Die Spaltung in Ost und West, in Russland-Freunde und NATO-Enthusiasten macht es dem ukrainischen Präsidenten Juschtschenko nicht leicht, sein Land in Richtung Westen zu führen. Zwar hoffen manche Politiker in Kiew, den Weg in die Allianz schneller gehen zu können. Vielleicht wird die Ukraine auf dem NATO-Gipfel in Dezember in das Beitrittsvorbereitungsprogramm aufgenommen werden. Der Kiewer Experte Olexander Palij jedenfalls meint: "Diese Krise wird dazu führen, dass die Zahl der Anhänger eines NATO-Beitritts der Ukraine schnell und dramatisch wachsen wird."
Noch ist allerdings von einem Stimmungswechsel nichts zu spüren. Lediglich 18,2 Prozent der Ukrainer äußerten sich in der Umfrage des Rasumkow-Zentrums für einen schnelleren NATO-Beitritt ihres Landes. Eine große Mehrheit der Bevölkerung ist dagegen: Zwei Drittel der Befragten stehen dem westlichen Militärbündnis skeptisch gegenüber.
Keine politische Stabilität
Auch in Sachen Europa sind in Kiew Hoffnungen gewachsen. Auf dem Ukraine-EU-Gipfel am 9. September in Frankreich soll ein Assoziierungsabkommen unterzeichnet werden. In Kiew wartet man auf ein Signal, dass Europa die Ukraine eines Tages aufnehmen könnte.
Doch egal ob NATO oder EU: Vieles hängt von der Ukraine selbst ab, so die einheitliche Meinung der Experten. Die Ukraine lässt politische Stabilität bisher vermissen. Anzeichen für eine Verbesserung gibt es nicht. Die Regierungskoalition von Ministerpräsidentin Tymoschenko ist brüchig, eine stabile Mehrheit im Parlament hat sie nicht. Tymoschenkos Rivalität mit Juschtschenko dürfte zunehmen, je näher der Präsidentschaftswahlkampf rücken wird. Ein heißer politischer Herbst in der Ukraine scheint vorprogrammiert.
Roman Goncharenko