Jahresrückblick
2. Januar 2013Es war kein gutes Jahr für die Politik in Washington. Der Präsidentschaftswahlkampf und die verhärteten Fronten zwischen Republikanern und Demokraten führten zu einem Stillstand in der Gesetzgebung. Thomas Mann, Politikexperte beim Washingtoner Brookings-Institut, beobachtet das politische Geschehen seit Jahrzehnten: "Alles deutet darauf hin, dass dies einer der am wenigsten produktiven Kongresse in der Geschichte gewesen ist", sagt er im Interview mit der DW. Das letzte Wort ist allerdings noch nicht gesprochen, die endgültige Bewertung des politischen Kräfteverhältnisses steht noch aus. Denn die Verhandlungen um das "fiscal cliff", die automatischen Etatkürzungen und Steuererhöhungen, die im nächsten Jahr eintreten, sollten sich die Republikaner und der Präsident im Kongress nicht auf Gesetzesreformen einigen, laufen noch.
Das Tauziehen um das "fiscal cliff" steht aber stellvertretend für die verhärteten politischen Fronten im Land: Demokraten und Republikaner sind sich einig, dass die hohen Staatsschulden und -ausgaben gesenkt werden müssen - allerdings wollen sie dies auf unterschiedlichen Wegen erreichen. Die Republikaner wollen Steuererhöhungen vermeiden, die Demokraten Etatkürzungen begrenzen.
Die Wirtschaftslage hilft Obama
Am politischen Stillstand hat auch das zentrale Ereignis von 2012, die Präsidentschaftswahl im November, nichts geändert. Obama wurde wiedergewählt, aber ihm steht noch immer ein von den Republikanern dominiertes Repräsentantenhaus gegenüber. Der Präsident weiß, dass es viel zu tun gibt, unter anderem "das Defizit abzubauen, des Steuer- und das Einwanderungsrecht zu reformieren, von Ölimporten unabhängig zu werden", so Obama in seiner Siegesrede.
Doch über allem steht die Wirtschaftslage, und sie, so Thomas Mann, sei auch entscheidend für Obamas Wiederwahl gewesen: "Nach dem jüngsten Bericht ist das Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal um 3,1 Prozent gestiegen." Die Arbeitslosenquote sank; nach dem Tief 2009 ging es langsam aber stetig wieder aufwärts.
Die verbalen Ausrutscher seines Herausforderers Mitt Romney und der lang anhaltende Widerstand gegen den ehemaligen Gouverneur von Massachusetts in seiner eigenen Partei taten ein übriges, um Obamas Ansehen zu stärken. Hinzu kam ein Hurrikan, der große Küstenstriche des Nordostens verwüstete und Schaden im zweistelligen Milliardenbereicht anrichtete. "Sandy" ermöglichte es dem Präsidenten, kurz vor der Wahl als Landesvater aufzutreten, der sich um die Menschen kümmert und keine Rücksicht auf Parteigezänk nimmt.
Betroffener Vater nach "Newtown"
Eine andere Diskussion lebte 2012 ebenfalls wieder auf: die über schärfere Waffengesetze. Das Massaker von Newtown, bei dem Einzeltäter zunächst seine Mutter und dann in einer Schule 20 Kinder und sechs Erwachsene tötet, schockte Anfang Dezember die Nation. Bei seiner ersten Stellungnahme musste der Präsident mit den Tränen kämpfen. Knapp eine Woche später setzt er eine Kommission unter Leitung von Vizepräsident Joe Biden ein, die herausfinden soll, mit welchen Maßnahmen sich eine solche Tragödie verhindern und die Zahl der durch Schusswaffen Getöteten generell senken lässt.
Eine einzelne Gesetzesänderung werde dafür nicht ausreichen, so der Präsident, aber das sei kein Grund, nicht anzufangen, und noch mehr zu tun: "Wir müssen den Zugang zu psychologischer Hilfe für psychisch Gestörte genauso einfach machen wie den Zugang zu Waffen, und wir müssen genauer auf eine Kultur schauen, die zu oft Waffen und Gewalt glorifiziert." Im Januar soll Bidens Kommission ihre Vorschläge machen.
Republikaner im Dilemma
In all diesen Debatten - "fiscal cliff", Klimawandel, Schusswaffen - finden sich die Republikaner, die durch den Einfluss der konservativen Tea Party nach den Kongresswahlen 2010 extrem nach rechts gerückt waren, zunehmend in der Defensive. "Sie scheinen nur noch Gruppen zu repräsentieren, deren Anteil an der Bevölkerung abnimmt, ihre Zustimmungswerte liegen 15 Prozentpunkte unter denen der Demokraten", sagt Thomas Mann. Und selbst in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik können sie gegen Obama nicht punkten.
Der Präsident hätte sich zwar lieber auf die Innenpolitik konzentriert, aber ganz hätten das die Ereignisse in Afghanistan, der arabischen Welt und dem südchinesischen Meer nicht zugelassen, meint Charles Kupchan vom "Council on Foreign Relations" im Interview mit der DW. Für Obamas Afghanistan-Politik sei 2012 "ein Jahr [gewesen], um die Öffentlichkeit, die Europäer und die NATO auf die Endphase vorzubereiten." Also vor allem Terrorismusbekämpfung, der Kampf verstärkt gegen Al Kaida und weniger gegen die Taliban, weniger "Staatenbildung" und verstärktes Hinarbeiten auf die Übergabe der Verantwortung an die Afghanen. Kupchan sagt, es würde ihn nicht überraschen, wenn der Zeitplan 2013 gerafft wird.
Außenpolitik im Zeichen der Neuorientierung
Obamas Außenpolitik habe im vergangenen Jahr weiter ganz im Zeichen einer Neuausrichtung gestanden, so Kupchan: "einer Stärkung amerikanischer Diplomatie, die im Rest der Welt gut ankommt, eine Mischung aus Führung und der Bereitschaft, anderen zuzuhören" - aber gleichzeitig auch einer Verschiebung der Gewichte, weg von massiven militärischen Interventionen hin zu smarter Nutzung etwa von bewaffneten Drohnen, und gemeinsamen Einsätzen etwa mit den Europäern. Daraus erkläre sich auf Obamas Unwillen eines militärischen Einsatzes in Syrien.
Noch etwas anderes hat Kupchan beobachtet: "Ich glaube, der Präsident hat Europa wiederentdeckt und ist mehr zu einem Atlantiker geworden als zu Beginn seiner Amtszeit." Verstärkt mit China, der Türkei oder Brasilien zusammenzuarbeiten hätte sich als schwierig erwiesen. So sei Europa trotz des "Drehs nach Asien" immer noch der Verbündete der ersten Wahl - auch wenn die Europäer wegen der Eurokrise nicht immer die Unterstützung leisten könnten, die nötig sei.
Blick nach Innen um Stärke zu gewinnen
Außerdem habe die Politik der "ausgestreckten Hand" zumindest im Falle Myanmar Erfolg gehabt, so Kupchan. Obama war im November 2012 der erste US-Präsident, der das Land besuchte. Und selbst im Atomstreit mit dem Iran, wo es keinen diplomatischen Durchbruch gibt, "hat [es] sich für Obama ausgezahlt, denn er konnte dadurch glaubwürdiger verstärkte Sanktionen fordern."
Doch letztlich betonte der Präsident im ablaufenden Jahr immer wieder, dass die USA zu allererst ihre Hausaufgaben machen müssen: Gesetze reformieren, Infrastruktur stärken, Wirtschaft ankurbeln. Denn nur ein innenpolitisch gestärktes Amerika könne auch außenpolitisch seiner Rolle als einzige verbliebene Weltmacht gerecht werden. Für 2013 gibt es viel zu tun.