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Glaube

Zwischenzeit - Gottes Zeit

28. September 2024

Noch ist der Herbst nicht voll da und doch hat sich die Welt verändert. Was uns diese besondere Zwischenzeit über die Vergänglichkeit lehren kann. Ein Beitrag der katholischen Kirche.

Ernte
Bild: Gudrun Krebs/PantherMedia/Imago

Wie treffend Kurt Tucholsky die Stimmung der zurückliegenden Tage ins Wort hob: „Eines Morgens riechst du den Herbst. Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig; es hat sich eigentlich gar nichts geändert – und doch alles.“ Zugegeben, windig und kalt war es diesen Monat schon zu genüge, mehr als es einem erklärten Sommer-Liebhaber wie mir lieb sein kann. Aber das Nebeneinander von Veränderung und Bleiben meine ich in diesem Jahr zum ersten Mal bewusst erlebt zu haben. 

Unter dem Pseudonym Kaspar Hauser fragt sich Tucholsky 1929 in der Wochenzeitschrift Die Weltbühne nach der schönsten Jahreszeit. Da Frühling, Sommer, Herbst und Winter alle ihre Macken hätten, plädiert er für eine besondere Zwischenzeit als Siegerin: die unscheinbare Phase, „wenn der späte Nachsommer im Verklingen ist und der frühe Herbst noch nicht angefangen hat“. Geht man dieser Tage durch die Straßen oder die Natur scheint alles wie zuvor. Zwar fallen bereits erste Blätter von den Bäumen, doch stehen sie längst nicht kahl da. An vielen Balkonen leuchten tapfer noch die letzten Sommerblüten. Was sich verändert hat ist das Licht. Es wirkt heller und klarer, obwohl die Tage ja längst kürzer geworden sind. Dazu die Gewissheit, dass er nun ganz bald vorbei ist, der Sommer. 

Fraglos hat auch der Herbst seine Reize: die ersten Kastanien in der Jackentasche streicheln, auch als Kaffee-Trinker wieder Tee kochen, die Wolldecken erst gar nicht mehr vom Sofa räumen, die Farbpracht der Laubbäume und natürlich Zwiebelkuchen und Zwetschgenmarmelade. Und trotzdem bin ich noch nicht bereit dafür, hänge noch zu sehr den heißen Tagen am See hinterher. Damit aber bin ich eigentlich noch nicht wirklich angekommen in Tucholskys Zwischenzeit. Denn ihr Erleben ist untrennbar verbunden mit der Anerkennung der Vergänglichkeit. „Es ist: optimistische Todesahnung, eine fröhliche Erkenntnis des Endes. Spätsommer, Frühherbst und das, was zwischen ihnen beiden liegt. Eine ganz kurze Spanne Zeit im Jahre. Es ist die fünfte und schönste Jahreszeit.“ 

Man muss Tucholsky nicht religiös vereinnahmen, um in der „fröhlichen Erkenntnis des Endes“ eine urchristliche Haltung zum Leben und Tod wiederzuerkennen. Gott im Wachsen und Gedeihen zu entdecken und ihn im Erntedank zu loben, fällt uns meistens leicht. Die wirkliche Glaubenskunst besteht darin, Gott in allen Dingen zu suchen und zu finden, wie es Ignatius von Loyola ausdrückte, in den guten Erlebnissen wie in den niederschmetternden. Wir leben immer zwischen Geburt und Tod – das Vergehen der Natur kann uns neu daran erinnern! – und Gott mit uns. Es ist der Kern des christlichen Glaubens an die Menschwerdung: Gott bewegt sich selbst in dieser Zwischenzeit, mitten unter den Menschen. 

„Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“, heißt es in der gleichnamigen Kantate von Johann Sebastian Bach, besser bekannt unter dem Namen Actus tragicus (BWV 106). Sie ist eine von Bachs frühesten Kantaten überhaupt, geschrieben mit Anfang Zwanzig für eine Trauerfeier, und der perfekte Soundtrack für die Zwischenzeit. Die Musik ist inniglich und aufreibend zugleich: Zwei Altflöten spielen anfangs unisono und fallen dann in enge Sekundreibungen auseinander. Zu Urzeiten des Menschen aus Knochen gefertigt, waren sie ein akustisches Sinnbild der Vergänglichkeit. „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit. In ihm leben, weben und sind wir, solange er will. In ihm sterben wir zur rechten Zeit, wenn er will“, so der Text des Eröffnungschors. „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“, singt der Bass-Solist zum musikalischen Höhepunkt. Wenn es uns gelingt, Gott in den Zwischenzeiten zu finden, sind wir auf bestem Wege, selig – mit dem Dasein versöhnt – zu werden. 

 

Quellen:  

Kurt Tucholsky „Die fünfte Jahreszeit“ (1929) https://www.textlog.de/tucholsky/glossen-essays/die-fuenfte-jahreszeit 

J.S. Bach „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ (BWV 106) in der Einspielung der Niederländischen Bachvereinigung https://www.bachvereniging.nl/en/bwv/bwv-106 

 

Zum Autoren:

Moritz Findeisen, Jahrgang 1988, hat in Freiburg Theologie und Geschichte studiert. Er absolvierte die journalistische Ausbildung des Instituts zur Förderung publizistischen Nachwuchses (ifp) und ist 2022 Redakteur der Wochenzeitschrift „Christ in der Gegenwart“. Sein besonderes Interesse gilt der Rolle und Veränderung religiöser Weltdeutungen in der pluralen Gesellschaft.